Der englische Viertligist Port Vale FC steht nach Vermutungen der BBC vor einem Insolvenzverfahren. Der umstrittene Klubdirektor Peter Miller ist heute von seinem Amt zurückgetreten. Da damit weniger als die vier benötigten Direktoren im Amt sind, ist der Klub nun nicht mehr vollständig und frei handlungsfähig.
Bereits am Samstag wurde über dem Viertligisten aus Stoke ein Transferemargo erlassen. Port Vale sieht sich einer offenen Steuerzahlung in Höhe von etwa 1,8 Mio. Pfund ausgesetzt. Der BBC zufolge muss der Verein monatlich 190.000 Pfund an die Steuerbehörde zahlen und konnte im Februar nicht die gesamte Summe aufbringen. Schon die Dezember- und Januar-Zahlungen waren nach Angaben der BBC verspätet eingegangen. Darüber hinaus droht eine Klage von Trikotsponsor "Harlequin" und einer amerikanischen Firma, die dem PVFC in der Sommerpause eine Freundschaftsspieltournee durch die USA und Kanada finanziert hatte.
Fans des Vereins fordern seit längerem den Rücktritt der gesamten Klubführung. Miller war erst im September 2011 angetreten und sollte einen neuen Investor finden, nachdem sich ein Übernahmeverfahren zerschlagen hatte. Ein angedachter Deal mit der US-amerikanischen Firma "Blue Sky International" zerschlug sich jedoch (http://www.bbc.co.uk/sport/0/football/16084827).
Dienstag, 28. Februar 2012
Insolvenzticker: Portsmouth FC
Auch Portsmouth hat es ja zwischenzeitlich erwischt - wegen Insolvenzverfahren wurde dem früheren Premier-League-Klub eine 10-Punkte-Strafe aufgebrummt. Nun hat der Verein neben seinen massiven finanziellen auch noch sportliche Sorgen, denn der Punktabzug führte zum Sturz auf einen Abstiegsplatz.
Seit Wochen machen die Pompey-Fans bereits mobil und versuchen, ihren Klub zu retten. Am letzten Wochenende kam es zur Aktion "Pack the Park", bei der betuchtere Fans Tickets für Anhänger kauften, die sich die Eintrittspreise nicht leisten können. Nun kommt es zur Aktion "Pay4aPal", bei der Fans Geld auf ein Paypalkonto einzahlen, von dem schließlich Tickets gekauft und verteilt werden sollen.
http://www.portsmouth.co.uk/sport/pompey/pompey-past/pompey_fans_buy_tickets_for_others_to_pack_the_park_1_3568726?utm_medium=twitter&utm_source=twitterfeed
Über die vielfältigen Aktionen der Pompey-Fans informiert http://www.pompeytrust.com/
Seit Wochen machen die Pompey-Fans bereits mobil und versuchen, ihren Klub zu retten. Am letzten Wochenende kam es zur Aktion "Pack the Park", bei der betuchtere Fans Tickets für Anhänger kauften, die sich die Eintrittspreise nicht leisten können. Nun kommt es zur Aktion "Pay4aPal", bei der Fans Geld auf ein Paypalkonto einzahlen, von dem schließlich Tickets gekauft und verteilt werden sollen.
http://www.portsmouth.co.uk/sport/pompey/pompey-past/pompey_fans_buy_tickets_for_others_to_pack_the_park_1_3568726?utm_medium=twitter&utm_source=twitterfeed
Über die vielfältigen Aktionen der Pompey-Fans informiert http://www.pompeytrust.com/
Samstag, 25. Februar 2012
Kultklubs in Europa: AS Livorno
Meine kleine Reise zu "kleinen Kultklubs in Europa" führt diesmal nach Italien.
AS Livorno
Es ist ein schwieriges Thema, es ist ein heikles Thema und es ein ewiges Thema: passen Sport und Politik zusammen? Eigentlich hat Politik im Stadion nichts zu suchen. Das ist weitestgehend Konsens. Doch im Sport tummeln sich nun mal Menschen – und die sind schließlich politisch.
Wie beim FC St. Pauli ist das Thema „Fußball und Politik“ auch beim italienischen Zweitligisten AS Livorno nicht als Frage formuliert sondern eine Selbstverständlichkeit. Während Livorno als eine der politischsten Städte Italiens gilt, betrachtet sich der AS Livorno offensiv als „politischer Fußballklub“. Oder zumindest tun dies die Fans des AS Livorno. Und sie sehen das auch völlig entspannt. Drehen den Spieß einfach um, wenn sie zum Thema Politik und Fußball gefragt werden. Verweisen auf AC-Mailand-Boss Silvio Berlusconi, der mit Fußball Wahlen gewonnen und seine rechtspopulistische Partei nach einem der populärsten Fußballanfeuerungsrufe Italiens benannt hat. Berlusconi ist Lieblingsfeind Livornos. Politisch ebenso wie sportlich. Wo Berlusconi für rechte Politik und rücksichtslosen Despotismus steht, gilt Livorno als stramm linksgerichtet und steht für solidarischen Kollektivgeist. Wo Berlusconi den von – Berlusconis! - Massenmedien flankierten yuppigen AC Mailand repräsentiert, dient der AS Livorno den Verbrämten und Zukurzgekommenen als aufregend schmuddeliges Bannerschild. Nein, in Livorno kann man Fußball nicht unabhängig von der Politik betrachten.
Um das zu verstehen, zunächst ein Blick auf die Geschichte Livornos. Eine hemdsärmlige Hafenstadt, die das weichwachsene Urlaubsflair der Toskana nur bedingt wiederspiegelt. Denn die Hafenstadt, von der aus die Mittelmeerinseln Sardinien und Korsika angesteuert werden, ist die Hochburg der Arbeiterbewegung in der Toskana. 1921 wurde hier die italienische KP gegründet. Im Kampf gegen Mussolinis Faschisten war Livorno Hochburg. Monatelange Streiks, Werftbesetzungen, Arbeiterkooperationen - Livorno hat es alles erlebt. Und selbst wenn die Arbeiterbewegung in der 150.000-Einwohner-Stadt wie überall längst Geschichte ist, die Werften brach liegen, die Feierabendsirenen verstummt sind und die Arbeitermassen sich nicht mehr über die Bars im Stadtzentrum ergießen – der Stolz der Arbeiterklasse lebt fort. In Livorno sagen sie, ihre Stadt sei neben Liverpool die einzige Europas, in der die Arbeiterkultur noch lebt.
Auf den Rängen des örtlichen Stadio Armano Picchi allemal. Und das sogar deutlich mehr als an der Liverpooler Anfield Road. Während dort emotionsleerer Premier-League-Fußball gereicht wird, gibt sich Livorno klassisch rustikal. Auf den Rängen singen sie provokativ die alte Widerstandshymne „Bella Ciao“ oder den Kommunistenschlager „Bandiera Rossa“. Denn der AS Livorno versteht sich selbstverständlich als fußballerischer Flügel der örtlichen Arbeiterkulturbewegung.
1915 gegründet, sind die „Amaranto“ („Bordeauxroten“) zwar chronisch titellos (größte Erfolge: Vizemeisterschaft 1920 und 1943), vermögen dies aber durch Verve und Leidenschaft wett zu machen. 1929 zu den Gründungsmitgliedern der Serie A zählend, hatten die Toskaner nach dem Zweiten Weltkrieg meist zwischen Serie C und Serie B gependelt, ehe sie 1983 in der Serie C2 gelandet waren und 1991 nach einem Finanzcrash ein Neustart in der sechsten Liga nötig wurde. Ein reinigender Prozess. Zwei Aufstieg in Folge führten die Amaranto zurück in die C2. 1997 gelang der Sprung in die C1 und 2001 erreichte man erstmals seit 29 Jahren wieder die zweithöchste Spielklasse Serie B.
Personifiziert wurden sowohl der Aufschwung als auch Livornos „Klassenkampfattitüde“ durch Mittelstürmer Cristiano Lucarelli. Ein Fußballer, der mit allen üblichen Attributen brach. Als Sohn eines Hafenarbeiters wuchs er in den Wohnsilos des schäbigen Stadtviertel Shangai im Norden Livornos auf. Dort, wo man wenig Geld hat und unendlich viel List zum Überleben braucht. Für einen kleinen Stadtteilverein kickend erwarb er bereits mit zwölf Jahren eine Dauerkarte für die Fankurve des AS Livorno. Später wurde er zum Fußball spielenden Ultrà und zum Vorzeigelinken. Ließ sich den fünfzackigen Stern auf den Unterarm tätowieren. In dessen Mitte: das Wappen des AS Livorno.
So ein Mann löst natürlich Kontroversen aus. Als Lucarelli 1996 bei einem U21-Länderspiel in Livorno ein Tor erzielte und anschließend provokativ vor der Ehrentribüne ein Che-Guevara-Unterhemd lüftete, flog er aus der Auswahlelf. Dennoch wurde Lucarelli anschließend in Bergamo, Valancia und Turin zum Star. Oder besser Anti-Star. Denn wann immer es ging, stand er in der Fankurve Livornos und gab den passionierten Ultrà. Stemmte nach einem Tor gerne mal die Kommunistenfaust in den Himmel. Nachdem Livorno in die Serie B aufgestiegen war, geschah das Unfassbare. Lucarelli kündigte seinen hochdotierten Vertrag beim AC Turin und unterschrieb in Livorno einen Kontrakt, dessen Erlöse vergleichsweise einer Armenspeisung glichen. Während sein Spielervermittler seinem Entsetzen in einem Buch Luft machte („Tenetevi il miliardo“, „Behaltet eure Millionen“) schoss Lucarelli die Amaranto in den Fußballhimmel. Erzielte 2003/04 in 41 Spielen 29 Treffer. Führte Livorno nach 55 Jahren in die höchste Spielklasse zurück. Italien Fußball-Establishment war entsetzt: In der Serie A kickte plötzlich eine linke Rebellenhochburg!
Und das toskanische Fußballmärchen ging weiter. Als einsamer Abstiegskandidat in die Saison gestartet, erreichten die Amaranto 2004/05 sensationell Platz neun und stellten mit Lucarelli den Torschützenkönig der Serie A. 2005/06 wurde der Höhepunkt erreicht. Durch die Punktabzüge anderer Klubs im Bestechungsskandal rückte Livorno auf Position sechs vor und qualifizierte sich für den UEFA-Cup. Die Gruppenphase überstehend, scheiterte man erst am späteren Finalisten Espanyol Barcelona. Lucarelli beglückte die Fans unterdessen, als ein lukratives Angebot von Zenit St. Petersburg ausschlug und kommentierte: „es gibt Fußballer, die sich für eine Milliarde einen Ferrari oder eine Yacht kaufen, ich kaufe mir dafür ein Livorno-Shirt – das ist alles.“
Wie beim FC St. Pauli dreht sich der Kult um Livorno vor allem um seine Fans. Und dient im vergleichsweise durchpolitisierten Fußball Italiens als ewiger Streitpunkt. In Livorno sagen sie, kein Klub im Lande sei so häufig von Stadionverboten betroffen wie der AS Livorno. Schimpfen sie über „politische Repressionen“, denn während die faschistischen Schlägerbanden in Rom unbehelligt blieben, würde in Livorno schon weggesperrt, wer nur einen Slogan gegen Berlusconi rufe. Vor allem die strikt antifaschistische Ultràgruppierung „Brigata Autonome Lovornesi“ („BAL“) stand unter Beobachtung, wurde von halb Italien als „kriminell“ klassifiziert, während Lucarelli stets mit der Nummer „99“ auflief, dem Gründungsjahr der BAL. Über deren Vielschichtigkeit staunte das Magazin „11 Freunde“ vor einiger Zeit: „Dicke Oberarme und aggressive Blicke. Nur Kleinigkeiten unterscheiden die BAL von normalen Stadionschlägern. Ibrahim ist eine solche Kleinigkeit .Er kommt aus Nigeria und hat vor vier Jahren in Italien Asyl beantragt. Mit drei Landsmännern steht er mitten in der Meute, um den Hals weiß-rote Schals .Wo sonst in Europa gehören schwarze Flüchtlinge zum harten Kern der Gemeinde der Ultras?“
Als Lucarelli Livorno 2007 nach einem Streit verließ, geriet das Idyll ins Wanken. Dem Abstieg aus der Serie A folgte zwar die sofortige Rückkehr, in der sich Livorno diesmal jedoch nicht halten konnte. Seitdem kommt man über Zweitligafußball nicht mehr hinaus. Lucarelli entsetzte derweil die Fans mit dem Bekenntnis, ausschließlich des Geldes wegen zum ukrainischen Klub Schachtjor Donezk gewechselt zu sein. Trotzig pfiffen sie ihren gefallenen Vorkämpfer aus, als er einige Zeit später, inzwischen zum FC Parma gewechselt, als Gastspieler in Livorno auflief. Und intonierten zugleich ihre stolzen Lieder, denn eins blieb und bleibt gewiss: in Livorno, da lebt der Widerstand!
AS Livorno
Gründungsdatum: 1915. Vereinsfarben. Rot-Weiß. Stadion: Stadio Armando Picchi (19.238 Plätze)
Internet: http://www.livornocalcio.it/
Spielklassen: Serie A: 1929-31, 1933-35, 1937-39, 1940-43, 1945-49, 2004-07, 2008/09
Größte Erfolge: Italienischer Vizemeister 1920, 1943, UEFA-Cup-Teilnehmer 2006
Fans: Die Ultrà-Gruppe Brigata Autonomo Livornesi (“BAL”) wurde 1999 gegründet und gilt als strikt antifaschistisch und kommunistisch. Vor allem in den Spielen gegen den als rechtsgerichtet angesehenen Hauptstadtklub Lazio Rom kam es immer wieder zu Ausschreitungen. Die Gruppe gilt seit einiger Zeit als aufgelöst. Nachfolger sind u.a. Vecchie Origini Livornesi 1915, Visitors und 1312.
AS Livorno
Es ist ein schwieriges Thema, es ist ein heikles Thema und es ein ewiges Thema: passen Sport und Politik zusammen? Eigentlich hat Politik im Stadion nichts zu suchen. Das ist weitestgehend Konsens. Doch im Sport tummeln sich nun mal Menschen – und die sind schließlich politisch.
Wie beim FC St. Pauli ist das Thema „Fußball und Politik“ auch beim italienischen Zweitligisten AS Livorno nicht als Frage formuliert sondern eine Selbstverständlichkeit. Während Livorno als eine der politischsten Städte Italiens gilt, betrachtet sich der AS Livorno offensiv als „politischer Fußballklub“. Oder zumindest tun dies die Fans des AS Livorno. Und sie sehen das auch völlig entspannt. Drehen den Spieß einfach um, wenn sie zum Thema Politik und Fußball gefragt werden. Verweisen auf AC-Mailand-Boss Silvio Berlusconi, der mit Fußball Wahlen gewonnen und seine rechtspopulistische Partei nach einem der populärsten Fußballanfeuerungsrufe Italiens benannt hat. Berlusconi ist Lieblingsfeind Livornos. Politisch ebenso wie sportlich. Wo Berlusconi für rechte Politik und rücksichtslosen Despotismus steht, gilt Livorno als stramm linksgerichtet und steht für solidarischen Kollektivgeist. Wo Berlusconi den von – Berlusconis! - Massenmedien flankierten yuppigen AC Mailand repräsentiert, dient der AS Livorno den Verbrämten und Zukurzgekommenen als aufregend schmuddeliges Bannerschild. Nein, in Livorno kann man Fußball nicht unabhängig von der Politik betrachten.
Um das zu verstehen, zunächst ein Blick auf die Geschichte Livornos. Eine hemdsärmlige Hafenstadt, die das weichwachsene Urlaubsflair der Toskana nur bedingt wiederspiegelt. Denn die Hafenstadt, von der aus die Mittelmeerinseln Sardinien und Korsika angesteuert werden, ist die Hochburg der Arbeiterbewegung in der Toskana. 1921 wurde hier die italienische KP gegründet. Im Kampf gegen Mussolinis Faschisten war Livorno Hochburg. Monatelange Streiks, Werftbesetzungen, Arbeiterkooperationen - Livorno hat es alles erlebt. Und selbst wenn die Arbeiterbewegung in der 150.000-Einwohner-Stadt wie überall längst Geschichte ist, die Werften brach liegen, die Feierabendsirenen verstummt sind und die Arbeitermassen sich nicht mehr über die Bars im Stadtzentrum ergießen – der Stolz der Arbeiterklasse lebt fort. In Livorno sagen sie, ihre Stadt sei neben Liverpool die einzige Europas, in der die Arbeiterkultur noch lebt.
Auf den Rängen des örtlichen Stadio Armano Picchi allemal. Und das sogar deutlich mehr als an der Liverpooler Anfield Road. Während dort emotionsleerer Premier-League-Fußball gereicht wird, gibt sich Livorno klassisch rustikal. Auf den Rängen singen sie provokativ die alte Widerstandshymne „Bella Ciao“ oder den Kommunistenschlager „Bandiera Rossa“. Denn der AS Livorno versteht sich selbstverständlich als fußballerischer Flügel der örtlichen Arbeiterkulturbewegung.
1915 gegründet, sind die „Amaranto“ („Bordeauxroten“) zwar chronisch titellos (größte Erfolge: Vizemeisterschaft 1920 und 1943), vermögen dies aber durch Verve und Leidenschaft wett zu machen. 1929 zu den Gründungsmitgliedern der Serie A zählend, hatten die Toskaner nach dem Zweiten Weltkrieg meist zwischen Serie C und Serie B gependelt, ehe sie 1983 in der Serie C2 gelandet waren und 1991 nach einem Finanzcrash ein Neustart in der sechsten Liga nötig wurde. Ein reinigender Prozess. Zwei Aufstieg in Folge führten die Amaranto zurück in die C2. 1997 gelang der Sprung in die C1 und 2001 erreichte man erstmals seit 29 Jahren wieder die zweithöchste Spielklasse Serie B.
Personifiziert wurden sowohl der Aufschwung als auch Livornos „Klassenkampfattitüde“ durch Mittelstürmer Cristiano Lucarelli. Ein Fußballer, der mit allen üblichen Attributen brach. Als Sohn eines Hafenarbeiters wuchs er in den Wohnsilos des schäbigen Stadtviertel Shangai im Norden Livornos auf. Dort, wo man wenig Geld hat und unendlich viel List zum Überleben braucht. Für einen kleinen Stadtteilverein kickend erwarb er bereits mit zwölf Jahren eine Dauerkarte für die Fankurve des AS Livorno. Später wurde er zum Fußball spielenden Ultrà und zum Vorzeigelinken. Ließ sich den fünfzackigen Stern auf den Unterarm tätowieren. In dessen Mitte: das Wappen des AS Livorno.
So ein Mann löst natürlich Kontroversen aus. Als Lucarelli 1996 bei einem U21-Länderspiel in Livorno ein Tor erzielte und anschließend provokativ vor der Ehrentribüne ein Che-Guevara-Unterhemd lüftete, flog er aus der Auswahlelf. Dennoch wurde Lucarelli anschließend in Bergamo, Valancia und Turin zum Star. Oder besser Anti-Star. Denn wann immer es ging, stand er in der Fankurve Livornos und gab den passionierten Ultrà. Stemmte nach einem Tor gerne mal die Kommunistenfaust in den Himmel. Nachdem Livorno in die Serie B aufgestiegen war, geschah das Unfassbare. Lucarelli kündigte seinen hochdotierten Vertrag beim AC Turin und unterschrieb in Livorno einen Kontrakt, dessen Erlöse vergleichsweise einer Armenspeisung glichen. Während sein Spielervermittler seinem Entsetzen in einem Buch Luft machte („Tenetevi il miliardo“, „Behaltet eure Millionen“) schoss Lucarelli die Amaranto in den Fußballhimmel. Erzielte 2003/04 in 41 Spielen 29 Treffer. Führte Livorno nach 55 Jahren in die höchste Spielklasse zurück. Italien Fußball-Establishment war entsetzt: In der Serie A kickte plötzlich eine linke Rebellenhochburg!
Und das toskanische Fußballmärchen ging weiter. Als einsamer Abstiegskandidat in die Saison gestartet, erreichten die Amaranto 2004/05 sensationell Platz neun und stellten mit Lucarelli den Torschützenkönig der Serie A. 2005/06 wurde der Höhepunkt erreicht. Durch die Punktabzüge anderer Klubs im Bestechungsskandal rückte Livorno auf Position sechs vor und qualifizierte sich für den UEFA-Cup. Die Gruppenphase überstehend, scheiterte man erst am späteren Finalisten Espanyol Barcelona. Lucarelli beglückte die Fans unterdessen, als ein lukratives Angebot von Zenit St. Petersburg ausschlug und kommentierte: „es gibt Fußballer, die sich für eine Milliarde einen Ferrari oder eine Yacht kaufen, ich kaufe mir dafür ein Livorno-Shirt – das ist alles.“
Wie beim FC St. Pauli dreht sich der Kult um Livorno vor allem um seine Fans. Und dient im vergleichsweise durchpolitisierten Fußball Italiens als ewiger Streitpunkt. In Livorno sagen sie, kein Klub im Lande sei so häufig von Stadionverboten betroffen wie der AS Livorno. Schimpfen sie über „politische Repressionen“, denn während die faschistischen Schlägerbanden in Rom unbehelligt blieben, würde in Livorno schon weggesperrt, wer nur einen Slogan gegen Berlusconi rufe. Vor allem die strikt antifaschistische Ultràgruppierung „Brigata Autonome Lovornesi“ („BAL“) stand unter Beobachtung, wurde von halb Italien als „kriminell“ klassifiziert, während Lucarelli stets mit der Nummer „99“ auflief, dem Gründungsjahr der BAL. Über deren Vielschichtigkeit staunte das Magazin „11 Freunde“ vor einiger Zeit: „Dicke Oberarme und aggressive Blicke. Nur Kleinigkeiten unterscheiden die BAL von normalen Stadionschlägern. Ibrahim ist eine solche Kleinigkeit .Er kommt aus Nigeria und hat vor vier Jahren in Italien Asyl beantragt. Mit drei Landsmännern steht er mitten in der Meute, um den Hals weiß-rote Schals .Wo sonst in Europa gehören schwarze Flüchtlinge zum harten Kern der Gemeinde der Ultras?“
Als Lucarelli Livorno 2007 nach einem Streit verließ, geriet das Idyll ins Wanken. Dem Abstieg aus der Serie A folgte zwar die sofortige Rückkehr, in der sich Livorno diesmal jedoch nicht halten konnte. Seitdem kommt man über Zweitligafußball nicht mehr hinaus. Lucarelli entsetzte derweil die Fans mit dem Bekenntnis, ausschließlich des Geldes wegen zum ukrainischen Klub Schachtjor Donezk gewechselt zu sein. Trotzig pfiffen sie ihren gefallenen Vorkämpfer aus, als er einige Zeit später, inzwischen zum FC Parma gewechselt, als Gastspieler in Livorno auflief. Und intonierten zugleich ihre stolzen Lieder, denn eins blieb und bleibt gewiss: in Livorno, da lebt der Widerstand!
AS Livorno
Gründungsdatum: 1915. Vereinsfarben. Rot-Weiß. Stadion: Stadio Armando Picchi (19.238 Plätze)
Internet: http://www.livornocalcio.it/
Spielklassen: Serie A: 1929-31, 1933-35, 1937-39, 1940-43, 1945-49, 2004-07, 2008/09
Größte Erfolge: Italienischer Vizemeister 1920, 1943, UEFA-Cup-Teilnehmer 2006
Fans: Die Ultrà-Gruppe Brigata Autonomo Livornesi (“BAL”) wurde 1999 gegründet und gilt als strikt antifaschistisch und kommunistisch. Vor allem in den Spielen gegen den als rechtsgerichtet angesehenen Hauptstadtklub Lazio Rom kam es immer wieder zu Ausschreitungen. Die Gruppe gilt seit einiger Zeit als aufgelöst. Nachfolger sind u.a. Vecchie Origini Livornesi 1915, Visitors und 1312.
Donnerstag, 23. Februar 2012
Was macht eigentlich der... TuS Hessisch Oldendorf
Aus meiner Reihe "Jahrestage" für die Zeitschrift "Nordsport" ein Porträt über den TuS Hessisch Oldendorf - manch einer mag sich noch daran erinnern, dass die Grün-Weißen mal in der Oberliga Nord rumkickten.
Er sorgte in den 1980er Jahren auch in Schleswig-Holstein für allerlei Verwirrungen – nicht zuletzt geografischer Natur: der TuS Hessisch Oldendorf, der die Fans drei Drittligaspielzeiten lang rätseln ließ, was ein „hessischer“ Verein in die Oberliga Nord macht.
Die verwirrende Ortsbezeichnung hatte jedoch andere Hintergründe. Bis 1905 hieß das eine Handvoll Kilometer nördlich von Hameln gelegene Weserstädtchen nämlich schlicht „Oldendorf“. Weil es mit diesem Alltagsnamen im wachsenden Bahn- und Postverkehr immer wieder zu Verwechslungen mit anderen Oldendorfs gekommen war, erhielt die niedersächsische Gemeinde den Zusatz „Hessisch“ – die Stadt gehörte seinerzeit zur preußischen Provinz Hessen-Nassau.
Bis Hessisch Oldendorf im Fußball über die Kreisgrenzen hinaus Bekanntheitsgrad erwarb, vergingen noch beinahe sieben Jahrzehnte. 1970 war das spektakuläre Wendejahr in der bis dahin höchst unspektakulären Historie des TuS von 1928. Damals übernahm mit Siegfried Gottwald ein engagierter Unternehmer die Vereinsführung und gab gewagte Visionen aus: „Mit 50 will ich in der Verbandsliga sein.“ Da der neue Chef zu jenem Zeitpunkt bereits 45 Jahre auf dem Buckel hatte, musste sich der seinerzeit in der 2. Kreisklasse dümpelnde TuS sputen. Denn bis zu Gottwalds Jubeljahr waren vier Aufstiege binnen fünf Jahre vonnöten.
Gottwald war aber nicht nur jemand, der gewagte Visionen malte, sondern auch jemand, der in der Lage war, sie umzusetzen. Dank seines Unternehmens „Wesermöbel“ verfügte er über eine gut gefüllte Kriegskasse und zeigte sich spendabel, was die Verpflichtung talentierter bzw. erfahrener Fußballerbeine betraf. Wie ein Wirbelwind fegte Hessisch Oldendorf hernach durch die niedersächsische Provinz. 1970/71 berechtigten 135:17 Tore und 45-3 Punkte zum Aufstieg in die 1. Kreisklasse. 1971/72 kam eine Handvoll Kicker vom benachbarten Verbandsligisten SV Obernkirchen und brachte den TuS sogar in den „kicker“. „In der 1. Kreisklasse Grafschaft Schaumburg hat die Mannschaft von TuS Hessisch Oldendorf die Meisterschaft mit 52:0 Punkten und 95:13 Toren errungen“, meldete das Fachblatt.
Auch in der Bezirksklasse waren die Grün-Weißen nicht zu stoppen: 120:20 Tore, 55:5 Punkte, dritter Aufstieg in Folge. Zwischenzeitlich hatte Gottwald begonnen, den heimischen Sportplatz in ein verbandsligataugliches Stadion zu verwandeln. In der Bezirksliga geriet der Erfolgsexpress dann aber kurzzeitig ins Stocken. Drei Niederlagen in der Hinrunde sorgten für ungewohnte Gefühle und verhinderten den vierten Aufstieg.
Pünktlich zum 50. Jubeljahr von Klubchef und Mäzen Gottwald war es dann 1974/75 so weit. „Trainer Rödenbeck weiß kaum noch, wie er seine Elf motivieren soll“, konstatierte die Lokalpresse zur Winterpause: „Bis jetzt haben die Oldenburger erreicht was nur möglich ist. Es scheint auch nicht überheblich, wenn Rödenbeck jetzt die Parole ausgibt: Wir wollen diese Saison ungeschlagen beenden“. Am Saisonende wies der TuS 22 Punkte auf seinen „Verfolger“ auf und hatte sämtliche Auswärtsspiele gewonnen. Ach ja: und er war in die Verbandsliga aufgestiegen. Wie von Gottwald prognostiziert!
Inzwischen existierte ein Förderkreis, und längst dachte man im Waldstadion über höhere Ziele nach. Die Oberliga Nord sollte es sein. 1977 sicherte sich die TuS mit einem 3:1 über den TSV Verden den Niedersachsenpokal, und 1978 feierten 2.000 Fans ein 2:1 über den VfR Osterode, das die Verbandsligameisterschaft sicherte. In der Aufstiegsrunde vollenden die Grün-Weißen ihren Triumphzug und rückten in die Verbandsliga Niedersachsen auf.
Dort dauerte es ungewohnt lange drei Jahre, ehe 1982 unter Trainer Klaus Blume der erneute Klassensprung anstand. In der Liga hatte sich der TuS gegen den turmhohen Favoriten Olympia Wilhelmshaven durchgesetzt, und in der Aufstiegsrunde war mit einem 4:1 bei Urania Hamburg die Pforte zum norddeutschen Amateuroberhaus geöffnet worden. Einziger Wermutstropfen: der karge Zuschauerbesuch von kaum 500 pro Heimspiel. „Wir schätzen uns glücklich, mit Herrn Gottwald einen Vorsitzenden und Mäzen zu besitzen, der uns in finanziellen Engpässen bislang geholfen hat“, stöhnte Geschäftsführer Arno Karnau.
In der Oberliga Nord waren die Grenzen des Wachstums erreicht. Obwohl man es mit hochdotiertem und namhaften Personal wie Neale Marmon, Klaus Wunder oder dem Polen Jermakowicz versuchte, bereiteten weder das alljährliche Punktekonto noch der Zuschauerzuspruch Freude. Im ersten Jahr kamen durchschnittlich immerhin 839 Zahlende (Platz 13). Im zweiten waren es nur noch 624 (Platz 10) und im dritten gerade mal 515. Sportlich zerbrach der grün-weiße Traum im dritten Jahr, als die Elf um Dauerbrenner Manfred Rusteberg und Sturmoldie Reinhard Loges nach einem Fehlstart im September auf den letzten Platz abrutschte und jenen im Saisonverlauf nicht mehr verlassen konnte.
Der Absturz war böse. Mäzen Gottwald sah sein „Lebenswerk in Gefahr“ und musste auch den Abstieg aus der Verbandsliga Niedersachsen hinnehmen. 1994/95 wurde die TuS in die Bezirksliga durchgereicht, stürzte 2002 in die Kreisliga und erreichte 2007 mit dem Abstieg in die Kreisklasse seinen Tiefpunkt. 2010 gelang immerhin die Rückkehr in die Leistungsklasse, was die „Deister- Weserzeitung“ zur Schlagzeile „Die Legende lebt – Der TuS ist wieder da“ animierte.
Er sorgte in den 1980er Jahren auch in Schleswig-Holstein für allerlei Verwirrungen – nicht zuletzt geografischer Natur: der TuS Hessisch Oldendorf, der die Fans drei Drittligaspielzeiten lang rätseln ließ, was ein „hessischer“ Verein in die Oberliga Nord macht.
Die verwirrende Ortsbezeichnung hatte jedoch andere Hintergründe. Bis 1905 hieß das eine Handvoll Kilometer nördlich von Hameln gelegene Weserstädtchen nämlich schlicht „Oldendorf“. Weil es mit diesem Alltagsnamen im wachsenden Bahn- und Postverkehr immer wieder zu Verwechslungen mit anderen Oldendorfs gekommen war, erhielt die niedersächsische Gemeinde den Zusatz „Hessisch“ – die Stadt gehörte seinerzeit zur preußischen Provinz Hessen-Nassau.
Bis Hessisch Oldendorf im Fußball über die Kreisgrenzen hinaus Bekanntheitsgrad erwarb, vergingen noch beinahe sieben Jahrzehnte. 1970 war das spektakuläre Wendejahr in der bis dahin höchst unspektakulären Historie des TuS von 1928. Damals übernahm mit Siegfried Gottwald ein engagierter Unternehmer die Vereinsführung und gab gewagte Visionen aus: „Mit 50 will ich in der Verbandsliga sein.“ Da der neue Chef zu jenem Zeitpunkt bereits 45 Jahre auf dem Buckel hatte, musste sich der seinerzeit in der 2. Kreisklasse dümpelnde TuS sputen. Denn bis zu Gottwalds Jubeljahr waren vier Aufstiege binnen fünf Jahre vonnöten.
Gottwald war aber nicht nur jemand, der gewagte Visionen malte, sondern auch jemand, der in der Lage war, sie umzusetzen. Dank seines Unternehmens „Wesermöbel“ verfügte er über eine gut gefüllte Kriegskasse und zeigte sich spendabel, was die Verpflichtung talentierter bzw. erfahrener Fußballerbeine betraf. Wie ein Wirbelwind fegte Hessisch Oldendorf hernach durch die niedersächsische Provinz. 1970/71 berechtigten 135:17 Tore und 45-3 Punkte zum Aufstieg in die 1. Kreisklasse. 1971/72 kam eine Handvoll Kicker vom benachbarten Verbandsligisten SV Obernkirchen und brachte den TuS sogar in den „kicker“. „In der 1. Kreisklasse Grafschaft Schaumburg hat die Mannschaft von TuS Hessisch Oldendorf die Meisterschaft mit 52:0 Punkten und 95:13 Toren errungen“, meldete das Fachblatt.
Auch in der Bezirksklasse waren die Grün-Weißen nicht zu stoppen: 120:20 Tore, 55:5 Punkte, dritter Aufstieg in Folge. Zwischenzeitlich hatte Gottwald begonnen, den heimischen Sportplatz in ein verbandsligataugliches Stadion zu verwandeln. In der Bezirksliga geriet der Erfolgsexpress dann aber kurzzeitig ins Stocken. Drei Niederlagen in der Hinrunde sorgten für ungewohnte Gefühle und verhinderten den vierten Aufstieg.
Pünktlich zum 50. Jubeljahr von Klubchef und Mäzen Gottwald war es dann 1974/75 so weit. „Trainer Rödenbeck weiß kaum noch, wie er seine Elf motivieren soll“, konstatierte die Lokalpresse zur Winterpause: „Bis jetzt haben die Oldenburger erreicht was nur möglich ist. Es scheint auch nicht überheblich, wenn Rödenbeck jetzt die Parole ausgibt: Wir wollen diese Saison ungeschlagen beenden“. Am Saisonende wies der TuS 22 Punkte auf seinen „Verfolger“ auf und hatte sämtliche Auswärtsspiele gewonnen. Ach ja: und er war in die Verbandsliga aufgestiegen. Wie von Gottwald prognostiziert!
Inzwischen existierte ein Förderkreis, und längst dachte man im Waldstadion über höhere Ziele nach. Die Oberliga Nord sollte es sein. 1977 sicherte sich die TuS mit einem 3:1 über den TSV Verden den Niedersachsenpokal, und 1978 feierten 2.000 Fans ein 2:1 über den VfR Osterode, das die Verbandsligameisterschaft sicherte. In der Aufstiegsrunde vollenden die Grün-Weißen ihren Triumphzug und rückten in die Verbandsliga Niedersachsen auf.
Dort dauerte es ungewohnt lange drei Jahre, ehe 1982 unter Trainer Klaus Blume der erneute Klassensprung anstand. In der Liga hatte sich der TuS gegen den turmhohen Favoriten Olympia Wilhelmshaven durchgesetzt, und in der Aufstiegsrunde war mit einem 4:1 bei Urania Hamburg die Pforte zum norddeutschen Amateuroberhaus geöffnet worden. Einziger Wermutstropfen: der karge Zuschauerbesuch von kaum 500 pro Heimspiel. „Wir schätzen uns glücklich, mit Herrn Gottwald einen Vorsitzenden und Mäzen zu besitzen, der uns in finanziellen Engpässen bislang geholfen hat“, stöhnte Geschäftsführer Arno Karnau.
In der Oberliga Nord waren die Grenzen des Wachstums erreicht. Obwohl man es mit hochdotiertem und namhaften Personal wie Neale Marmon, Klaus Wunder oder dem Polen Jermakowicz versuchte, bereiteten weder das alljährliche Punktekonto noch der Zuschauerzuspruch Freude. Im ersten Jahr kamen durchschnittlich immerhin 839 Zahlende (Platz 13). Im zweiten waren es nur noch 624 (Platz 10) und im dritten gerade mal 515. Sportlich zerbrach der grün-weiße Traum im dritten Jahr, als die Elf um Dauerbrenner Manfred Rusteberg und Sturmoldie Reinhard Loges nach einem Fehlstart im September auf den letzten Platz abrutschte und jenen im Saisonverlauf nicht mehr verlassen konnte.
Der Absturz war böse. Mäzen Gottwald sah sein „Lebenswerk in Gefahr“ und musste auch den Abstieg aus der Verbandsliga Niedersachsen hinnehmen. 1994/95 wurde die TuS in die Bezirksliga durchgereicht, stürzte 2002 in die Kreisliga und erreichte 2007 mit dem Abstieg in die Kreisklasse seinen Tiefpunkt. 2010 gelang immerhin die Rückkehr in die Leistungsklasse, was die „Deister- Weserzeitung“ zur Schlagzeile „Die Legende lebt – Der TuS ist wieder da“ animierte.
Mittwoch, 22. Februar 2012
Kultklubs in Europa: Viktoria Zizkov
Aus der "FUWO"-Serie "Kleine Kultvereine" heute mal was aus Prag.
Wer Viktoria Žižkov sehen will, muss früh aufstehen. Egal, in der welcher Spielklasse sich die Rot-Weißen auch tummeln: Heimspiele beginnen stets am Sonntagmorgen um viertel nach Zehn. Bei dem anstrengenden Wochenendangebot, das die Goldene Stadt Touristen wie Einheimischen offeriert, kann das dazu führen, dass die Nachtruhe schmerzhaft kurz ausfällt - oder gleich komplett entfällt.
Ein entsprechendes Publikum versammelt sich im altehrwürdigen Viktoria-Stadion im dritten Prager Stadtquartier Žižkov. Vor dem Bierstand schwanken ein paar unverwüstliche Nachtschwärmer beim letzten Absackerbier. In der Ostkurve lehnen vom harten Leben und regelmäßigem Alkoholgenuss gezeichnete Arbeiter an rauen Wellenbrechern. Mitten drin tummeln sich alternativ angehauchte Studenten sowie Sinti und Roma, die im unmittelbaren Stadionumfeld zu Hause sind. Der klassische Prager Fußballfan – Alter irgendwo jenseits der 45, verwunschenes Gesicht mit mindestens graustoppeligem Dreitagebart und enzyklopädischem Wissen über alles und alle im Prager Fußballer der letzten Jahrhunderte - darf natürlich nicht fehlen. Kaum ein Ort in Prag versammelt ein derart buntes Publikum, wie Viktoria Žižkov.
Der Klub entwickelte seinen Ruhm als Kultverein schon früh. 1903 gegründet von ein paar Studenten war Viktoria Žižkov bereits in den 1920er Jahren unter den führenden Profiklubs der damaligen Tschechoslowakei zu finden. 1928 sicherten sich die Rot-Weißen zum bislang einzigen Mal in ihrer Geschichte den Titel des Landesmeisters. In der Zwischenkriegszeit finden sich auch die Wurzeln zum „Viktorianka Kult“. 1931 tauchte die auf einem Roman von Karel Poláček basierende Fußballkomödie „Muži v offsidu“ („Männer im Abseits“) in den Kinos auf, die sich um das Leben der damaligen Fans von Viktoria Žižkov dreht und heute einzigartiges Filmmaterial über jene Zeit liefert. Mit Vlasta Burian hatte vor dem Ersten Weltkrieg zudem ein in den 1920er Jahren äußerst beliebter Filmschauspieler das Viktoria-Jersey getragen.
Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs verschwand die bürgerliche Viktoria aus der höchsten Liga und versank anschließend im unterklassigen Fußball. Das kommunistische Regime präferierte staatstragendere Kollektive und kümmerte sich nicht um die ruhmreiche Vergangenheit des Klubs mit intellektuellem Background. 1952 wurde Viktoria in einer unfreiwilligen Fusion mit Avia Čakovice zu Slavoj Žižkov und konnte erst 1965 ihren Traditionsnamen wieder annehmen. Was erstaunlich war, stammte dieser doch aus dem Englischen! Sportlich pendelten die Rot-Weißen anschließend zwischen zweiter und vierter Liga und verpassten 1967 nur knapp die Rückkehr in die höchste Klasse.
Erst nach dem Prager Frühling kehrte Viktoria Žižkov auf die Landkarte der großen Prager Mannschaften zurück. Steigbügelhalter war Multimillionär Vratislav Čekan, der seine geliebte „Viktorka“ höchstselbst zum Leben erweckte. Čekan erwarb das Stadion von der Bezirksverwaltung und besorgte im Schulterschluss mit dem Zweitligisten JZD Slušovice, der 1992 Konkurs ging, eine Spiellizenz für die zweithöchste Liga. Damit am Grünen Tisch in die Zweitklassigkeit zurückgekehrt, marschierten die Rot-Weißen 1992/93 prompt ins Oberhaus durch und waren nach 45 Jahren endlich wieder erstklassig.
Als 1994 mit einem Elfmeterschießensieg über Sparta Prag der Pokalsieg gelang (im Halbfinale hatte man bereits Slavia ausgeschaltet), betraten die Rot-Weißen um Nationalspieler Karel Poborský sogar die europäische Bühne. Zunächst den IFK Norrköping ausschaltend trafen sie in der zweiten Runde auf den Chelsea FC - allerdings im vor-Abramowitsch-Zustand. Das Viktoria-Stadion an der Seifertova třída musste dennoch passen, denn die UEFA erlaubte die Austragung in der 8.000-Plätze-, sorry, Bruchbude nicht. 5.176 Zuschauer sahen in Jablonec nad Nisou ein respektables 0:0, das nach der 2:4-Hinspielniederlage nicht zum Weiterkommen reichte.
1996 schied Čekan nach einem unerquicklichen behördlichen Wirrwarr aus, und die Viktoria drohte erneut im Niemandsland zu verschwinden. Doch zur Freude der gewachsen Fanschar verteidigten die Rot-Weißen ihren Platz im Spitzenfeld des Prager Fußballs nicht nur sondern drangen zunehmend in die Phalanx der beiden Großen Slavia und Sparta ein und errangen 2001 erneut den Landespokal.
2002 winkte unter Trainer Zdeněk Ščasný sogar die zweite Landesmeisterschaft nach 1928. Doch wie es sich für einen zünftigen Kultklub gehört, scheiterte die Viktoria um Tomáš Hunal und Petr Pižanowski ebenso tragisch wie spektakulär. Bis zur 86. Minute hielt man im Derby gegen die Slavia ein 0:0, das im Titelduell mit Slovan Liberec zur Meisterschaft gereicht hätte. Dann traf Pavel Kuka für Slavia und Viktoria fiel auf Rang drei zurück und damit sogar aus den Champions-League-Plätzen raus.
2003 feierte man in Žižkov noch einen triumphalen Europapokalerfolg über die Glasgow Rangers, ehe es 2004 zurück in die 2. Liga ging. Jahre später stellte sich zudem heraus, dass die Erfolge von einer systematischen Bestechung von Schiedsrichtern begünstigt gewesen waren. Seitdem pendelt der Kultverein sportlich zwischen Oberhaus und Zweitklassigkeit.
Das Viktoria-Stadion an der Seifertova třída im dritten Prager Bezirk Žižkov ist allein wegen der kultigen Anstoßzeit einen Besuch wert. Zudem ist Viktoria Žižkov der zentralst gelegene aller Prager Spitzenklub. Das charakterstarke Stadion liegt keine fünf Minuten vom Hauptbahnhof Hlavní Nádradží, und die ungewöhnliche Spielzeit genießt Kultcharakter unter reisefreudigen Fußballfans, bietet sie doch die Chance, im reichhaltigen Prager Fußballangebot gleich zwei Erstligaspiele an einem Tag zu erleben.
Eingeschlossen von klotzigen Wohnhäusern aus mehreren Epochen verspricht die Arena einen Ausflug in uralte Fußballtage. Als Arenen noch Stadien waren, die Sitzplätze ausschließlich den Honoratioren vorbehalten waren und das werktätige Volk noch Schiebermützen trug. Žižkov erlaubt diese Zeitreise, und könnte man die Farbe aus dem Bild kippen, käme man sich dort vor wie in den goldenen 1950er Jahren. Zwar trägt auch das Viktoria-Stadion inzwischen einen Sponsorennamen („eFotbal-Arena“) und ist mehrfach geliftet worden, der Zahn der Zeit – oder das Flair der Vergangenheit – je nach Standpunkt, lugt dennoch unverändert aus beinahe jedem Stein hervor.
Bei ihrer Eröffnung 1952 fasste die Arena 15.000 Menschen. Versitzplatzungsmaßnahmen haben dies seit 2002 auf übersichtliche 5.600 Plätze reduziert, die allerdings nur dann knapp werden, wenn einer der großen Nachbarn Slavia oder Sparta anrückt. Architektonisch ist die Sportstätte ein Unikum mitten in der brodelnden Weltstadt Prag. Einzig die Haupttribüne ist überdacht. Direkt hinter der Westtribüne verläuft ein wuchtiges Gebäude, und auf der Ostseite konnte erst 2007 eine notdürftige Traverse errichtet werden, auf der sich seitdem die Viktoria-Fans versammeln. Sie sind zahlenmäßig nicht wirklich viele. Aber sie sind laut, und sie sind treu. Im Gegensatz zum klar links positionierten Umfeld beim benachbarten Kultklub Bohemians 1905 ist der Fanblock in Žižkov zudem durchmischt.
Legendenstatus genießt auch der ursprüngliche Eingangsbereich vor der Ostkurve, in der es zudem eine weitere Berühmtheit Žižkovs gibt: die legendäre Klobasa-Bratwurst. Für 45 Kronen ist diese hemdsärmlige kulinarische Köstlichkeit, die zu den besten Prags, wenn nicht gar Tschechiens zählt, zu erwerben. Dazu ein zünftiges Bier, und schon stört die frühe Anstoßzeit nicht mehr.
Gründungsdatum: 1903. Vereinsfarben. Rot-Weiß. Stadion: eFotbal Arena, Seifertova třída, Praha 3 - Žižkov (5.600 Plätze). Internet: fkvz.cz
Bekannte Spieler: Karel Poborský, Tomáš Hunal, Josef Ludl, Antonín Mlejnský, Alĕs Pikl, Petr Pižanowski
Größte Erfolge: Tschechoslowakischer Meister 1928. Tschechischer Pokalsieger: 1994, 2001. Teilnehmer Europapokal der Pokalsieger 1994. UEFA-Cup-Teilnehmer 2000, 2002, 2003
Fans: Der Fan Klub Viktoria Žižkov (www.fkvz-fanklub.cz) nimmt auf der Osttribüne Position.
Wer Viktoria Žižkov sehen will, muss früh aufstehen. Egal, in der welcher Spielklasse sich die Rot-Weißen auch tummeln: Heimspiele beginnen stets am Sonntagmorgen um viertel nach Zehn. Bei dem anstrengenden Wochenendangebot, das die Goldene Stadt Touristen wie Einheimischen offeriert, kann das dazu führen, dass die Nachtruhe schmerzhaft kurz ausfällt - oder gleich komplett entfällt.
Ein entsprechendes Publikum versammelt sich im altehrwürdigen Viktoria-Stadion im dritten Prager Stadtquartier Žižkov. Vor dem Bierstand schwanken ein paar unverwüstliche Nachtschwärmer beim letzten Absackerbier. In der Ostkurve lehnen vom harten Leben und regelmäßigem Alkoholgenuss gezeichnete Arbeiter an rauen Wellenbrechern. Mitten drin tummeln sich alternativ angehauchte Studenten sowie Sinti und Roma, die im unmittelbaren Stadionumfeld zu Hause sind. Der klassische Prager Fußballfan – Alter irgendwo jenseits der 45, verwunschenes Gesicht mit mindestens graustoppeligem Dreitagebart und enzyklopädischem Wissen über alles und alle im Prager Fußballer der letzten Jahrhunderte - darf natürlich nicht fehlen. Kaum ein Ort in Prag versammelt ein derart buntes Publikum, wie Viktoria Žižkov.
Der Klub entwickelte seinen Ruhm als Kultverein schon früh. 1903 gegründet von ein paar Studenten war Viktoria Žižkov bereits in den 1920er Jahren unter den führenden Profiklubs der damaligen Tschechoslowakei zu finden. 1928 sicherten sich die Rot-Weißen zum bislang einzigen Mal in ihrer Geschichte den Titel des Landesmeisters. In der Zwischenkriegszeit finden sich auch die Wurzeln zum „Viktorianka Kult“. 1931 tauchte die auf einem Roman von Karel Poláček basierende Fußballkomödie „Muži v offsidu“ („Männer im Abseits“) in den Kinos auf, die sich um das Leben der damaligen Fans von Viktoria Žižkov dreht und heute einzigartiges Filmmaterial über jene Zeit liefert. Mit Vlasta Burian hatte vor dem Ersten Weltkrieg zudem ein in den 1920er Jahren äußerst beliebter Filmschauspieler das Viktoria-Jersey getragen.
Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs verschwand die bürgerliche Viktoria aus der höchsten Liga und versank anschließend im unterklassigen Fußball. Das kommunistische Regime präferierte staatstragendere Kollektive und kümmerte sich nicht um die ruhmreiche Vergangenheit des Klubs mit intellektuellem Background. 1952 wurde Viktoria in einer unfreiwilligen Fusion mit Avia Čakovice zu Slavoj Žižkov und konnte erst 1965 ihren Traditionsnamen wieder annehmen. Was erstaunlich war, stammte dieser doch aus dem Englischen! Sportlich pendelten die Rot-Weißen anschließend zwischen zweiter und vierter Liga und verpassten 1967 nur knapp die Rückkehr in die höchste Klasse.
Erst nach dem Prager Frühling kehrte Viktoria Žižkov auf die Landkarte der großen Prager Mannschaften zurück. Steigbügelhalter war Multimillionär Vratislav Čekan, der seine geliebte „Viktorka“ höchstselbst zum Leben erweckte. Čekan erwarb das Stadion von der Bezirksverwaltung und besorgte im Schulterschluss mit dem Zweitligisten JZD Slušovice, der 1992 Konkurs ging, eine Spiellizenz für die zweithöchste Liga. Damit am Grünen Tisch in die Zweitklassigkeit zurückgekehrt, marschierten die Rot-Weißen 1992/93 prompt ins Oberhaus durch und waren nach 45 Jahren endlich wieder erstklassig.
Als 1994 mit einem Elfmeterschießensieg über Sparta Prag der Pokalsieg gelang (im Halbfinale hatte man bereits Slavia ausgeschaltet), betraten die Rot-Weißen um Nationalspieler Karel Poborský sogar die europäische Bühne. Zunächst den IFK Norrköping ausschaltend trafen sie in der zweiten Runde auf den Chelsea FC - allerdings im vor-Abramowitsch-Zustand. Das Viktoria-Stadion an der Seifertova třída musste dennoch passen, denn die UEFA erlaubte die Austragung in der 8.000-Plätze-, sorry, Bruchbude nicht. 5.176 Zuschauer sahen in Jablonec nad Nisou ein respektables 0:0, das nach der 2:4-Hinspielniederlage nicht zum Weiterkommen reichte.
1996 schied Čekan nach einem unerquicklichen behördlichen Wirrwarr aus, und die Viktoria drohte erneut im Niemandsland zu verschwinden. Doch zur Freude der gewachsen Fanschar verteidigten die Rot-Weißen ihren Platz im Spitzenfeld des Prager Fußballs nicht nur sondern drangen zunehmend in die Phalanx der beiden Großen Slavia und Sparta ein und errangen 2001 erneut den Landespokal.
2002 winkte unter Trainer Zdeněk Ščasný sogar die zweite Landesmeisterschaft nach 1928. Doch wie es sich für einen zünftigen Kultklub gehört, scheiterte die Viktoria um Tomáš Hunal und Petr Pižanowski ebenso tragisch wie spektakulär. Bis zur 86. Minute hielt man im Derby gegen die Slavia ein 0:0, das im Titelduell mit Slovan Liberec zur Meisterschaft gereicht hätte. Dann traf Pavel Kuka für Slavia und Viktoria fiel auf Rang drei zurück und damit sogar aus den Champions-League-Plätzen raus.
2003 feierte man in Žižkov noch einen triumphalen Europapokalerfolg über die Glasgow Rangers, ehe es 2004 zurück in die 2. Liga ging. Jahre später stellte sich zudem heraus, dass die Erfolge von einer systematischen Bestechung von Schiedsrichtern begünstigt gewesen waren. Seitdem pendelt der Kultverein sportlich zwischen Oberhaus und Zweitklassigkeit.
Das Viktoria-Stadion an der Seifertova třída im dritten Prager Bezirk Žižkov ist allein wegen der kultigen Anstoßzeit einen Besuch wert. Zudem ist Viktoria Žižkov der zentralst gelegene aller Prager Spitzenklub. Das charakterstarke Stadion liegt keine fünf Minuten vom Hauptbahnhof Hlavní Nádradží, und die ungewöhnliche Spielzeit genießt Kultcharakter unter reisefreudigen Fußballfans, bietet sie doch die Chance, im reichhaltigen Prager Fußballangebot gleich zwei Erstligaspiele an einem Tag zu erleben.
Eingeschlossen von klotzigen Wohnhäusern aus mehreren Epochen verspricht die Arena einen Ausflug in uralte Fußballtage. Als Arenen noch Stadien waren, die Sitzplätze ausschließlich den Honoratioren vorbehalten waren und das werktätige Volk noch Schiebermützen trug. Žižkov erlaubt diese Zeitreise, und könnte man die Farbe aus dem Bild kippen, käme man sich dort vor wie in den goldenen 1950er Jahren. Zwar trägt auch das Viktoria-Stadion inzwischen einen Sponsorennamen („eFotbal-Arena“) und ist mehrfach geliftet worden, der Zahn der Zeit – oder das Flair der Vergangenheit – je nach Standpunkt, lugt dennoch unverändert aus beinahe jedem Stein hervor.
Bei ihrer Eröffnung 1952 fasste die Arena 15.000 Menschen. Versitzplatzungsmaßnahmen haben dies seit 2002 auf übersichtliche 5.600 Plätze reduziert, die allerdings nur dann knapp werden, wenn einer der großen Nachbarn Slavia oder Sparta anrückt. Architektonisch ist die Sportstätte ein Unikum mitten in der brodelnden Weltstadt Prag. Einzig die Haupttribüne ist überdacht. Direkt hinter der Westtribüne verläuft ein wuchtiges Gebäude, und auf der Ostseite konnte erst 2007 eine notdürftige Traverse errichtet werden, auf der sich seitdem die Viktoria-Fans versammeln. Sie sind zahlenmäßig nicht wirklich viele. Aber sie sind laut, und sie sind treu. Im Gegensatz zum klar links positionierten Umfeld beim benachbarten Kultklub Bohemians 1905 ist der Fanblock in Žižkov zudem durchmischt.
Legendenstatus genießt auch der ursprüngliche Eingangsbereich vor der Ostkurve, in der es zudem eine weitere Berühmtheit Žižkovs gibt: die legendäre Klobasa-Bratwurst. Für 45 Kronen ist diese hemdsärmlige kulinarische Köstlichkeit, die zu den besten Prags, wenn nicht gar Tschechiens zählt, zu erwerben. Dazu ein zünftiges Bier, und schon stört die frühe Anstoßzeit nicht mehr.
Gründungsdatum: 1903. Vereinsfarben. Rot-Weiß. Stadion: eFotbal Arena, Seifertova třída, Praha 3 - Žižkov (5.600 Plätze). Internet: fkvz.cz
Bekannte Spieler: Karel Poborský, Tomáš Hunal, Josef Ludl, Antonín Mlejnský, Alĕs Pikl, Petr Pižanowski
Größte Erfolge: Tschechoslowakischer Meister 1928. Tschechischer Pokalsieger: 1994, 2001. Teilnehmer Europapokal der Pokalsieger 1994. UEFA-Cup-Teilnehmer 2000, 2002, 2003
Fans: Der Fan Klub Viktoria Žižkov (www.fkvz-fanklub.cz) nimmt auf der Osttribüne Position.
Montag, 20. Februar 2012
Insolvenzticker: FC 96 Recklinghausen
Die am 14. Januar beim Amtsgericht Bochum beantragte Eröffnung eines Insolvenzverfahren über den westfälischen Landesligisten FC 96 Recklinghausen ist inzwischen durchgewunken.
Auf der Homepage des finanziell angeschlagenen Vereins heißt es: "Hallo liebe 96er, die 1. Hürde im Insolvenzverfahren haben wir geschaft. Das Amtsgericht Bochum hat am 30.01.2012 das Insolvenzverfahren eröffnet. Bis zum 8.3.2012 werden die Forderungen der Insolvenzgläubiger aufgenommen. Am 10.4.2012 findet beim Amtsgericht in Bochum die Gläubigerversammlung statt. Somit können wir guten Glaubens in die Saison mit allen Senioren- und Jugendmannschaften starten."
Für die Grün-Gelben aus dem Stadion Hohenhorst scheint damit wieder Licht am Ende des Tunnels. Der Klub sieht sich mit einer Forderung in Höhe von 22.000 Euro durch den Spielerberater Tanis konfrontiert. FC96-Klubchef Jürgen Siedlhofer in der "Recklinghäuser Zeitung": Siedelhofer: „Herr Tanis fordert von uns das Geld in einer Summe zurück. Das können wir nicht bezahlen.“ Weiter heißt es in dem Blatt: "Vor dem Oberlandesgericht Hamm hatte der FC 96 im vergangenen Jahr noch einen Vergleich mit Tanis geschlossen. Die nun noch im Raum stehenden 22 000 Euro will der Spielervermittler aber offenbar sofort sehen – komplett."
Inzwischen ist allerdings deutlich geworden, dass die Schuldenlast auf dem Verein, der 1996 aus der Konkursmasse des 1. FC Recklinghausen entstanden war, noch größer ist. Siedelhofer erklärte bereits im Januar: „Jetzt sind auch noch Steuern und Verbandsabgaben aufgelaufen". Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens hofft Siedlhofer nun auf eine Rettung des Vereins: „Trainer und Spieler verzichten auf ihre Gelder. Und ich habe hoch gerechnet, dass wir bis Saisonende durch Werbeeinnahmen, Zuschauer, Verpachtung der Cafeteria und so weiter ungefähr 15 000 Euro erwirtschaften können.“
http://www.reviersport.de/articles-178996.html
Auf der Homepage des finanziell angeschlagenen Vereins heißt es: "Hallo liebe 96er, die 1. Hürde im Insolvenzverfahren haben wir geschaft. Das Amtsgericht Bochum hat am 30.01.2012 das Insolvenzverfahren eröffnet. Bis zum 8.3.2012 werden die Forderungen der Insolvenzgläubiger aufgenommen. Am 10.4.2012 findet beim Amtsgericht in Bochum die Gläubigerversammlung statt. Somit können wir guten Glaubens in die Saison mit allen Senioren- und Jugendmannschaften starten."
Für die Grün-Gelben aus dem Stadion Hohenhorst scheint damit wieder Licht am Ende des Tunnels. Der Klub sieht sich mit einer Forderung in Höhe von 22.000 Euro durch den Spielerberater Tanis konfrontiert. FC96-Klubchef Jürgen Siedlhofer in der "Recklinghäuser Zeitung": Siedelhofer: „Herr Tanis fordert von uns das Geld in einer Summe zurück. Das können wir nicht bezahlen.“ Weiter heißt es in dem Blatt: "Vor dem Oberlandesgericht Hamm hatte der FC 96 im vergangenen Jahr noch einen Vergleich mit Tanis geschlossen. Die nun noch im Raum stehenden 22 000 Euro will der Spielervermittler aber offenbar sofort sehen – komplett."
Inzwischen ist allerdings deutlich geworden, dass die Schuldenlast auf dem Verein, der 1996 aus der Konkursmasse des 1. FC Recklinghausen entstanden war, noch größer ist. Siedelhofer erklärte bereits im Januar: „Jetzt sind auch noch Steuern und Verbandsabgaben aufgelaufen". Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens hofft Siedlhofer nun auf eine Rettung des Vereins: „Trainer und Spieler verzichten auf ihre Gelder. Und ich habe hoch gerechnet, dass wir bis Saisonende durch Werbeeinnahmen, Zuschauer, Verpachtung der Cafeteria und so weiter ungefähr 15 000 Euro erwirtschaften können.“
http://www.reviersport.de/articles-178996.html
Freitag, 17. Februar 2012
Kultklubs in Europa: En Avant Guingamp
Die Berliner "Fuwo" (http://www.fussball-woche.de/) vertreibt sich die Winterpause mit einer schönen Serie über "Kultvereine in Europa". Da schreib ich natürlich mit! Hier einer meiner Beiträge
Guingamp – ein Fußballdorf auf großer Bühne
Das berühmte „gallische Dorf“, gibt es das wirklich? Guingamp erfüllt jedenfalls alle Voraussetzungen. Es liegt in der Region, die jeder Asterix-Band unter seine Lupe nimmt. Es ist klein, und es ist widerständig. In Guingamp sprechen sie nicht Französisch sondern Bretonisch, und alles was aus Paris kommt, wird bestenfalls naserümpfend zur Kenntnis genommen.
Die Bretagne. Ein wilder Landstrich. Wettergegerbt, mythenumrankt, voll rauer Schönheiten. Die Welt scheint hier zu Ende zu sein. Mit seltener Gemütlichkeit schlendert das Leben dahin. Autobahnen gibt es nicht, und wer von Nord nach Süd will, muss sich mühsam durch Landschaften navigieren, die von bizarren Zauberwäldchen und mächtigen Megalithen gesäumt sind.
Und dann Guingamp. Eine unauffällige Provinzstadt unweit von St. Brieuc im nördlichen Departement Côtes d’Armor. 8.000 Einwohner stark. Das ist selbst für das großstadtarme Frankreich wenig. Und doch kennt man Guingamp (ausgesprochen: „Gähngomm“) im ganzen Hexagon. Denn der niedliche Marktfleck ist eine der Fußballhochburgen Frankreichs. 18.000 Plätze bietet das örtliche Stade du Roudourou – und war in der Vergangenheit zigfach ausverkauft. 2010 kam sogar die französische Nationalmannschaft und bestritt ihr EM-Qualifikationsspiel gegen die Faröer in Gwengamp, wie der Ort auf Bretonisch heißt. „Guingamp, c’est spezial“, sagt man in Frankreich: „Guingamp, das ist etwas Besonderes.“
Und ein herrliches Beispiel, wie der Fußball eine verschlafene Region verwandeln kann. Denn normalerweise passiert in Guingamp nicht viel. Das schicke Leben spielt sich in der benachbarten Lust-Kapitale Saint Brieuc ab, und wer abends über den Place du Centre marschiert, trifft nur selten andere Passanten. En Avant hat dem Örtchen Leben eingehaucht und seinen Bewohnern Stolz geschenkt. Über den Fußball kann sich das kleine Provinznest schließlich sogar mit den Metropolen messen!
Los ging das Märchen Mitte der 1970er Jahre. Zunächst „nur“ als „Pokalschreck“ gefürchtet, gelang En Avant („Vorwärts“) Guingamp 1995 einigermaßen überraschend der Durchmarsch von der dritten bis in die erste Liga, wo man im ersten Jahr bis in den UEFA-Cup stürmte und sich plötzlich Inter Mailand gegenübersah. Als „Zaubertrank“ fungierten Kollektivgeist und die Besinnung auf bretonische Wurzeln. Große Teile des Erfolgskaders stammten aus der Region – darunter Stéphane Guivarc’h, der 1998 mit Frankreich Weltmeister wurde und aus Concarneau stammt, Stéphane Carnot aus dem Dörfchen Saint Yvy unweit von Quimper, Lionel Rouxel aus dem benachbarten Dinan sowie Publikumsliebling Claude „Coco“ Michel aus Rostrenen bei Carhaix.
En Avant Guingamp ist aber mehr als nur ein Fußballklub. Der Verein ist so etwas wie der fußballerische Flügel der bretonischen Kulturbewegung. Im Vereinslogo prangt das uralte keltische Symbol „Triskel“, auf den Rängen werden bretonische Lieder gesungen und mit seinem keltischen Gustus erreicht der Verein in der traditionsverbundenen und überwiegend zweisprachigen Nordbretagne auch die Nichtfußballfans. Im gemütlichen Ortszentrum ist En Avant überall präsent. Selbst eine auf wissenschaftliche Publikationen spezialisierte Buchhandlung stellt stolz eine Abhandlung über den berühmtesten Vertreter der Stadt in sein Schaufenster. „En Avant, c’est la Bretagne“, versichert der rauschebärtige Besitzer: „En Avant, das ist Bretagne.“
Ihren Zenit erklommen die Rot-Schwarzen im Spieljahr 2002/03, als die späteren Chelsea-Stars Didier Drogba und Florent Malouda den Angriff bildeten und in einer atemberaubenden Rückserie nur haarscharf der erneute Sprung in den UEFA-Cup verpasst wurde. Anschließend kaufte die finanzkräftigere Konkurrenz das Erfolgsteam auf (Drogba zu Marseille, Malouda nach Lyon), und für Guingamp ging es zurück in die 2. Liga. Die Ausstrahlung des Vereins blieb ungebrochen – auch im Unterhaus strömten häufig mehr als 10.000 Zuschauer ins Stade Roudourou.
Guingamps Fans kommen aus der gesamten Nordwestbretagne. Am Spieltag pendelt Reisebus um Reisebus in die Kleinstadt und spuckt stolze Bretonen aus. Gar 40.000 Fans unterstützten die Elf aus der 8.000-Seelen-Gemeinde am 9. Mai 2009, als En Avant im französischen Pokalfinale auf den bretonischen Nachbarn und Erstligisten Stade Rennes traf. Ehrfürchtig verneigte sich Frankreich seinerzeit vor den „unbeugsamen Galliern“, die im Halbfinale mit einem 2:1 bei Champions-League-Anwärter Toulouse für eine faustdicke Sensation gesorgt hatten. Im zum bretonischen Volksfest geratenen Finale krönte der Zweitligist seinen Siegeszug und holte den Coupe de France in die Nordbretagne. „Les paysans sont de retour“, sangen die 40.000 Guingampais glückselig. „Die Bauern sind zurück“.
Guingamps Erfolgsbasis sind Kontinuität und regionale Aura. Zu den langjährigen Unterstützern zählen der im benachbarten St. Brieuc ansässige Nahrungsmittelhersteller „Jean Stalaven“, die regionale Fluggesellschaft „Brit Air“ sowie die lokale Käserei „Rippoz“, die ganz Europa mit Raclette versorgt. Dass Guingamp zudem für Bodenständigkeit, Realismus und harte Arbeit steht, hat viel mit Noël Le Graët zu tun. Der langjährige Vereinspräsident, Vorsitzende des französischen Ligaverbandes LNF (vergleichbar der DFL) und ehemalige Bürgermeister von Guingamp ist trotz seiner Ämterhäufung ein bodenständiger und zugänglicher Mensch geblieben, der seine Wurzeln und seine Heimat schätzt. Er nimmt sich Zeit für die Menschen, hört ihnen zu. Kein Wunder, dass En Avant Guingamp als der wohl familiärste Profiverein in Frankreich gilt. Weltstar Didier Drogba schwärmt noch heute von seinen Tagen in der nordbretonischen Provinz. Nur das raue Wetter und der ländliche Charakter mit dem beschaulichen Lebensrhythmus bereitet den vergnügungssuchenden Profis bisweilen Probleme.
Sportlich ging es nach dem Pokalcoup und den aufregenden Europa-League-Duellen gegen den Hamburger SV turbulent weiter. Mit gefüllten Schatullen und hohen Ambitionen auf die Rückkehr in die 1. Liga ausgestattet, fand sich En Avant nur zwölf Monate später in der Drittklassigkeit wieder. Der Verlust von Torjäger und Pokalheld Eduardo zu Racing Lens hatte nicht kompensiert werden können. Schlimmer jedoch: zwischen Team und Publikum tat sich eine nie zuvor erlebte Entfremdung auf. Wütend protestierte die Fankurve „Kop Rouge“ gegen die leidenschaftslosen Legionäre im eigenen Team. Das „gallische Dorf“ drohte seinen Zaubertrank zu verlieren.
Der Abstieg erwies sich als reinigender Prozess. Im ersten Anlauf gelang die Rückkehr in Liga 2, und dort hat sich die Elf um den jungen Trainer und gebürtigen Bretonen Jocelyn Gourvennec nach einer starken Hinrunde in der Spitzengruppe eingenistet. Die Fans strömen wie eh und je. Zum Gipfeltreffen gegen Bastia kamen im Dezember fast 15.000 Zuschauer. Stolz ist man aber vor allem auf die gelungene Rückkehr zu alten Werten. „Fidélité, Fair-play, ferveur“ – “Treue, Fairplay, Leidenschaft”, lautet das wiederbelebte Motto der Anhängerschaft. Guingamps Publikum wurde in der Vergangenheit mehrfach als „bestes“ im Lande ausgezeichnet, weil es im Stade du Roudourou stets fair und respektvoll zugeht.
Man sollte sich von der niedlichen Idylle allerdings nicht täuschen lassen, denn in seiner Fußball-Infrastruktur ist En Avant nüchtern professionell. Das Stade Roudourou entspricht modernsten Vorgaben, der Betreuerstab dem eines gutgeführten Erstligisten und die hochgelobte Nachwuchsarbeit bescherte dem Klub zuletzt 2008 den Titel des französischen Jugendmeisters. Neben bretonischen Talenten sind es inzwischen vor allem junge Afrikaner, die in Guingamp ihren „letzten Schliff“ erhalten.
Das wiederum ist ein fröhlicher Anachronismus zur tiefverwurzelten konservativen Grundeinstellung vieler Nordbretonen, die zwar durchaus damit einverstanden sind, Franzosen zu sein, ihren Stolz jedoch ausschließlich für die Bretagne reservieren. Glaube also niemand, im Stade Roudourou würde auch nur eine einzige Tricolore flattern!
En Avant Guingamp
Gründungsdatum: 1912. Vereinsfarben. Rot-Schwarz. Stadion: Stade Roudourou (18.378 Plätze, davon 16.878 Sitzplätze)
Internet: http://www.eaguingamp.com/
Spielklassen: bis 1976 im Amateurlager. 1976/77: Division 3, 1977-93: Division 2, 1993/94: Division 3, 1994/95: Division 2, 1995-98 : Ligue 1, 1998-2000 : Ligue 2, 2000-04 : Ligue 1, 2004-10 : Ligue 2, 2010/11 : National (3. Liga), seit 2011/12 : Ligue 2
Bekannte Spieler : Didier Drogba, Florent Malouda, Stephan Guivarc’h, Xavier Gravelaine, Claude „Coco“ Michel
Größte Erfolge: Französischer Pokalsieger 2009. Französischer Pokalfinalist 1997. UEFA-Cup-Teilnehmer 1996, Europa-League-Teilnehmer 2009
Fans: Dachverband „Kop Rouge“ wurde 1993 gegründet und hat Ableger im Département Finistére (KR29), Paris (KRidef), Okzitanien (KRO) und sogar Deutschland (KRallemagne, http://krallemagne.wordpress.com/). Die Heimfans stehen auf der Hintertortribüne Lateral Ouest (Westtribüne)
Guingamp – ein Fußballdorf auf großer Bühne
Das berühmte „gallische Dorf“, gibt es das wirklich? Guingamp erfüllt jedenfalls alle Voraussetzungen. Es liegt in der Region, die jeder Asterix-Band unter seine Lupe nimmt. Es ist klein, und es ist widerständig. In Guingamp sprechen sie nicht Französisch sondern Bretonisch, und alles was aus Paris kommt, wird bestenfalls naserümpfend zur Kenntnis genommen.
Die Bretagne. Ein wilder Landstrich. Wettergegerbt, mythenumrankt, voll rauer Schönheiten. Die Welt scheint hier zu Ende zu sein. Mit seltener Gemütlichkeit schlendert das Leben dahin. Autobahnen gibt es nicht, und wer von Nord nach Süd will, muss sich mühsam durch Landschaften navigieren, die von bizarren Zauberwäldchen und mächtigen Megalithen gesäumt sind.
Und dann Guingamp. Eine unauffällige Provinzstadt unweit von St. Brieuc im nördlichen Departement Côtes d’Armor. 8.000 Einwohner stark. Das ist selbst für das großstadtarme Frankreich wenig. Und doch kennt man Guingamp (ausgesprochen: „Gähngomm“) im ganzen Hexagon. Denn der niedliche Marktfleck ist eine der Fußballhochburgen Frankreichs. 18.000 Plätze bietet das örtliche Stade du Roudourou – und war in der Vergangenheit zigfach ausverkauft. 2010 kam sogar die französische Nationalmannschaft und bestritt ihr EM-Qualifikationsspiel gegen die Faröer in Gwengamp, wie der Ort auf Bretonisch heißt. „Guingamp, c’est spezial“, sagt man in Frankreich: „Guingamp, das ist etwas Besonderes.“
Und ein herrliches Beispiel, wie der Fußball eine verschlafene Region verwandeln kann. Denn normalerweise passiert in Guingamp nicht viel. Das schicke Leben spielt sich in der benachbarten Lust-Kapitale Saint Brieuc ab, und wer abends über den Place du Centre marschiert, trifft nur selten andere Passanten. En Avant hat dem Örtchen Leben eingehaucht und seinen Bewohnern Stolz geschenkt. Über den Fußball kann sich das kleine Provinznest schließlich sogar mit den Metropolen messen!
Los ging das Märchen Mitte der 1970er Jahre. Zunächst „nur“ als „Pokalschreck“ gefürchtet, gelang En Avant („Vorwärts“) Guingamp 1995 einigermaßen überraschend der Durchmarsch von der dritten bis in die erste Liga, wo man im ersten Jahr bis in den UEFA-Cup stürmte und sich plötzlich Inter Mailand gegenübersah. Als „Zaubertrank“ fungierten Kollektivgeist und die Besinnung auf bretonische Wurzeln. Große Teile des Erfolgskaders stammten aus der Region – darunter Stéphane Guivarc’h, der 1998 mit Frankreich Weltmeister wurde und aus Concarneau stammt, Stéphane Carnot aus dem Dörfchen Saint Yvy unweit von Quimper, Lionel Rouxel aus dem benachbarten Dinan sowie Publikumsliebling Claude „Coco“ Michel aus Rostrenen bei Carhaix.
En Avant Guingamp ist aber mehr als nur ein Fußballklub. Der Verein ist so etwas wie der fußballerische Flügel der bretonischen Kulturbewegung. Im Vereinslogo prangt das uralte keltische Symbol „Triskel“, auf den Rängen werden bretonische Lieder gesungen und mit seinem keltischen Gustus erreicht der Verein in der traditionsverbundenen und überwiegend zweisprachigen Nordbretagne auch die Nichtfußballfans. Im gemütlichen Ortszentrum ist En Avant überall präsent. Selbst eine auf wissenschaftliche Publikationen spezialisierte Buchhandlung stellt stolz eine Abhandlung über den berühmtesten Vertreter der Stadt in sein Schaufenster. „En Avant, c’est la Bretagne“, versichert der rauschebärtige Besitzer: „En Avant, das ist Bretagne.“
Ihren Zenit erklommen die Rot-Schwarzen im Spieljahr 2002/03, als die späteren Chelsea-Stars Didier Drogba und Florent Malouda den Angriff bildeten und in einer atemberaubenden Rückserie nur haarscharf der erneute Sprung in den UEFA-Cup verpasst wurde. Anschließend kaufte die finanzkräftigere Konkurrenz das Erfolgsteam auf (Drogba zu Marseille, Malouda nach Lyon), und für Guingamp ging es zurück in die 2. Liga. Die Ausstrahlung des Vereins blieb ungebrochen – auch im Unterhaus strömten häufig mehr als 10.000 Zuschauer ins Stade Roudourou.
Guingamps Fans kommen aus der gesamten Nordwestbretagne. Am Spieltag pendelt Reisebus um Reisebus in die Kleinstadt und spuckt stolze Bretonen aus. Gar 40.000 Fans unterstützten die Elf aus der 8.000-Seelen-Gemeinde am 9. Mai 2009, als En Avant im französischen Pokalfinale auf den bretonischen Nachbarn und Erstligisten Stade Rennes traf. Ehrfürchtig verneigte sich Frankreich seinerzeit vor den „unbeugsamen Galliern“, die im Halbfinale mit einem 2:1 bei Champions-League-Anwärter Toulouse für eine faustdicke Sensation gesorgt hatten. Im zum bretonischen Volksfest geratenen Finale krönte der Zweitligist seinen Siegeszug und holte den Coupe de France in die Nordbretagne. „Les paysans sont de retour“, sangen die 40.000 Guingampais glückselig. „Die Bauern sind zurück“.
Guingamps Erfolgsbasis sind Kontinuität und regionale Aura. Zu den langjährigen Unterstützern zählen der im benachbarten St. Brieuc ansässige Nahrungsmittelhersteller „Jean Stalaven“, die regionale Fluggesellschaft „Brit Air“ sowie die lokale Käserei „Rippoz“, die ganz Europa mit Raclette versorgt. Dass Guingamp zudem für Bodenständigkeit, Realismus und harte Arbeit steht, hat viel mit Noël Le Graët zu tun. Der langjährige Vereinspräsident, Vorsitzende des französischen Ligaverbandes LNF (vergleichbar der DFL) und ehemalige Bürgermeister von Guingamp ist trotz seiner Ämterhäufung ein bodenständiger und zugänglicher Mensch geblieben, der seine Wurzeln und seine Heimat schätzt. Er nimmt sich Zeit für die Menschen, hört ihnen zu. Kein Wunder, dass En Avant Guingamp als der wohl familiärste Profiverein in Frankreich gilt. Weltstar Didier Drogba schwärmt noch heute von seinen Tagen in der nordbretonischen Provinz. Nur das raue Wetter und der ländliche Charakter mit dem beschaulichen Lebensrhythmus bereitet den vergnügungssuchenden Profis bisweilen Probleme.
Sportlich ging es nach dem Pokalcoup und den aufregenden Europa-League-Duellen gegen den Hamburger SV turbulent weiter. Mit gefüllten Schatullen und hohen Ambitionen auf die Rückkehr in die 1. Liga ausgestattet, fand sich En Avant nur zwölf Monate später in der Drittklassigkeit wieder. Der Verlust von Torjäger und Pokalheld Eduardo zu Racing Lens hatte nicht kompensiert werden können. Schlimmer jedoch: zwischen Team und Publikum tat sich eine nie zuvor erlebte Entfremdung auf. Wütend protestierte die Fankurve „Kop Rouge“ gegen die leidenschaftslosen Legionäre im eigenen Team. Das „gallische Dorf“ drohte seinen Zaubertrank zu verlieren.
Der Abstieg erwies sich als reinigender Prozess. Im ersten Anlauf gelang die Rückkehr in Liga 2, und dort hat sich die Elf um den jungen Trainer und gebürtigen Bretonen Jocelyn Gourvennec nach einer starken Hinrunde in der Spitzengruppe eingenistet. Die Fans strömen wie eh und je. Zum Gipfeltreffen gegen Bastia kamen im Dezember fast 15.000 Zuschauer. Stolz ist man aber vor allem auf die gelungene Rückkehr zu alten Werten. „Fidélité, Fair-play, ferveur“ – “Treue, Fairplay, Leidenschaft”, lautet das wiederbelebte Motto der Anhängerschaft. Guingamps Publikum wurde in der Vergangenheit mehrfach als „bestes“ im Lande ausgezeichnet, weil es im Stade du Roudourou stets fair und respektvoll zugeht.
Man sollte sich von der niedlichen Idylle allerdings nicht täuschen lassen, denn in seiner Fußball-Infrastruktur ist En Avant nüchtern professionell. Das Stade Roudourou entspricht modernsten Vorgaben, der Betreuerstab dem eines gutgeführten Erstligisten und die hochgelobte Nachwuchsarbeit bescherte dem Klub zuletzt 2008 den Titel des französischen Jugendmeisters. Neben bretonischen Talenten sind es inzwischen vor allem junge Afrikaner, die in Guingamp ihren „letzten Schliff“ erhalten.
Das wiederum ist ein fröhlicher Anachronismus zur tiefverwurzelten konservativen Grundeinstellung vieler Nordbretonen, die zwar durchaus damit einverstanden sind, Franzosen zu sein, ihren Stolz jedoch ausschließlich für die Bretagne reservieren. Glaube also niemand, im Stade Roudourou würde auch nur eine einzige Tricolore flattern!
En Avant Guingamp
Gründungsdatum: 1912. Vereinsfarben. Rot-Schwarz. Stadion: Stade Roudourou (18.378 Plätze, davon 16.878 Sitzplätze)
Internet: http://www.eaguingamp.com/
Spielklassen: bis 1976 im Amateurlager. 1976/77: Division 3, 1977-93: Division 2, 1993/94: Division 3, 1994/95: Division 2, 1995-98 : Ligue 1, 1998-2000 : Ligue 2, 2000-04 : Ligue 1, 2004-10 : Ligue 2, 2010/11 : National (3. Liga), seit 2011/12 : Ligue 2
Bekannte Spieler : Didier Drogba, Florent Malouda, Stephan Guivarc’h, Xavier Gravelaine, Claude „Coco“ Michel
Größte Erfolge: Französischer Pokalsieger 2009. Französischer Pokalfinalist 1997. UEFA-Cup-Teilnehmer 1996, Europa-League-Teilnehmer 2009
Fans: Dachverband „Kop Rouge“ wurde 1993 gegründet und hat Ableger im Département Finistére (KR29), Paris (KRidef), Okzitanien (KRO) und sogar Deutschland (KRallemagne, http://krallemagne.wordpress.com/). Die Heimfans stehen auf der Hintertortribüne Lateral Ouest (Westtribüne)
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