Donnerstag, 19. Februar 2015

Heute bin ich Bauer!


Heute bin ich Bauer. Mit Leib und Seele, mit vollem Herzen. Seit ich im April 1995 zum ersten Mal im Stade Roudourou von En Avant de Guingamp war (1:0 gegen Racing Lens) bin ich Guingampais. Oder auch „paysan“, „Bauer“, wie man in der ländl...ichen Region der Nordbretagne gerne mit gehörigem Stolz kundtut.

En Avant de Guingamp ist ein Klub, mit dem ich über viele Jahre wahrlich nicht in den Verdacht geriet, Erfolgsfan zu sein. Guingamp, dieses kleine Nest zwischen Rennes und Brest mit gerade mal 8.000 Einwohnern ist so ziemlich das Gegenteil von „hip“. Die Menschen dort immer ein bisschen wettergegerbt, ein wenig störrisch, ganz schön bretonisch. Wenn man im lokalen Carrefour einkauft, hört man häufiger bretonische Worte als französische.

Obwohl Guingamps Bahnhof und das Stade de Roudourou an entgegengesetzten Ecken der Stadt liegen, kann man die Distanz mit einem strammen Fußmarsch binnen zehn Minuten überwinden. Und passiert dabei das niedliche Zentrum mit seiner verkehrsberuhigten Rue Notre Dame. Überquert den Place du Centre, wo regelmäßig die Erfolge des örtlichen Fußballteams gefeiert werden. Auf den Bühnen, die dann dort schnell aufgestellt werden, standen schon Männer wie Didier Drogba, Stéphane Guivarc’h und Florent Malouda. Männer, die allesamt das schwarz-rote Jersey von En Avant de Guingamp getragen haben. Männer die ich bejubelt habe, bevor sie zu Stars wurden. En Avant hat mir als Fan unendlich viel geschenkt.

Doch meine Liebe zu En Avant Guingamp wurde auch regelmäßig auf harte Proben gestellt. Zum einen ist der Ort von Deutschland aus nicht leicht zu erreichen. Kein Billigflieger macht sich auf den Weg in die Nordbretagne. Zum anderen ist der Klub klein. Schlicht und einfach. So ein bisschen wie der SC Freiburg hierzulande. Da wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Da ist man froh, wenn man mal ein wenig am Erfolg nippen darf. Zweimal stieg ich auf in die erste Liga mit den Bretonen. War sowohl 2000 beim entscheidenden 0:0 gegen Lille vor Ort als auch 2013, als ein 1:0 über Ajaccio im Ausweichstadion Gueugnon erneut das Erstligator öffnete.

Feierte 2009 und 2014 jeweils den Pokalsieg mit den „Paysans“ in Paris. Beide Male durch Erfolge gegen den bretonischen Rivalen Stade Rennes. Unbezahlbar. Weinte aber auch mit meinen lieben Freunden von der Kop Rouge, als wir 2004 in Marseille aus der League 1 abstiegen und 2010 - nur ein Jahr nach dem sensationellen Pokalsieg – trotz Heimsieg über Ajaccio sogar in die 3. Liga mussten.

„Tous ensemble, toujours En Avant“, lautet das Motto des Klubs. „Alle zusammen, immer En Avant“. Ein Slogan, der in Guingamp wahrlich gelebt wird. Von den Menschen, vom Verein, von den Spielern, von den Fans. Jedes Jahr belegt das Publikum in Guingamp einen Spitzenplatz bei der Bewertung „bestes Publikum“. Wer in der Woche durch Guingamp marschiert sollte sich nicht wundern, den einen oder anderen Spieler im lokalen Fanshop anzutreffen. Im entspannten Schnack mit dem Personal. Guingamp ist eben Kleinstadt. Auch im Fußball. Und so schaffte man nach dem Sturz in die 3. Liga „tous ensemble“ auch die Wende. 2011 ging es zurück in die 2. und 2013 sogar in die 1. Liga. 2014 dann der erneute Pokalsieg.

Kann man mit einem „Dorfklub“ wie Guingamp noch mehr erreichen? Damals glaubte ich es nicht. Fürchtete stattdessen im Dezember 2014 nach einem 2:7 daheim gegen Nizza den erneuten Abstieg. Und nun das: heute Abend trifft En Avant de Guingamp im 16tel-Finale der Europa League auf Dynamo Kiew. Mal wieder ist das Stade Roudourou komplett ausverkauft. Über 16.000 Zuschauer werden die Einwohnerzahl verdoppeln. Ich bin leider nicht vor Ort, denn ich entschied mich früh, stattdessen das Rückspiel in Kiew zu besuchen. Heute in einer Woche findet es statt, und angesichts der Entwicklung in der Ukraine wird es ein ganz besonders aufregender Ausflug sein.

Heute Abend hocke ich also leider nur vor dem Computerbildschirm, wenn En Avant Guingamp ab 21 Uhr mal wieder bretonische – französische! - Fußballgeschichte schreibt. Der kleine Klub ist der letzte französische Vertreter in der Europa League. Die France Football hat ihm in ihrer aktuellen Ausgabe eine sechsseitige Reportage gewidmet. Die heutige L’Equipe macht mit der Schlagzeile „En avant, Guingamp!“ auf („Vorwärts, Guingamp“). Seit Tagen überschlägt sich meine Facebook-Timeline mit aufgeregten Botschaften befreundeter Guingamp-Fans und bretonischer Medien. Guingamp lebt heute Fußball, lebt En Avant, ist „tous ensemble, toujour En Avant“.

Was ist der Fußball doch für ein großartiges Geschenk! Allez Guingamp, les supporters sont là!