Die Berliner "Fuwo" (http://www.fussball-woche.de/) vertreibt sich die Winterpause mit einer schönen Serie über "Kultvereine in Europa". Da schreib ich natürlich mit! Hier einer meiner Beiträge
Guingamp – ein Fußballdorf auf großer Bühne
Das berühmte „gallische Dorf“, gibt es das wirklich? Guingamp erfüllt jedenfalls alle Voraussetzungen. Es liegt in der Region, die jeder Asterix-Band unter seine Lupe nimmt. Es ist klein, und es ist widerständig. In Guingamp sprechen sie nicht Französisch sondern Bretonisch, und alles was aus Paris kommt, wird bestenfalls naserümpfend zur Kenntnis genommen.
Die Bretagne. Ein wilder Landstrich. Wettergegerbt, mythenumrankt, voll rauer Schönheiten. Die Welt scheint hier zu Ende zu sein. Mit seltener Gemütlichkeit schlendert das Leben dahin. Autobahnen gibt es nicht, und wer von Nord nach Süd will, muss sich mühsam durch Landschaften navigieren, die von bizarren Zauberwäldchen und mächtigen Megalithen gesäumt sind.
Und dann Guingamp. Eine unauffällige Provinzstadt unweit von St. Brieuc im nördlichen Departement Côtes d’Armor. 8.000 Einwohner stark. Das ist selbst für das großstadtarme Frankreich wenig. Und doch kennt man Guingamp (ausgesprochen: „Gähngomm“) im ganzen Hexagon. Denn der niedliche Marktfleck ist eine der Fußballhochburgen Frankreichs. 18.000 Plätze bietet das örtliche Stade du Roudourou – und war in der Vergangenheit zigfach ausverkauft. 2010 kam sogar die französische Nationalmannschaft und bestritt ihr EM-Qualifikationsspiel gegen die Faröer in Gwengamp, wie der Ort auf Bretonisch heißt. „Guingamp, c’est spezial“, sagt man in Frankreich: „Guingamp, das ist etwas Besonderes.“
Und ein herrliches Beispiel, wie der Fußball eine verschlafene Region verwandeln kann. Denn normalerweise passiert in Guingamp nicht viel. Das schicke Leben spielt sich in der benachbarten Lust-Kapitale Saint Brieuc ab, und wer abends über den Place du Centre marschiert, trifft nur selten andere Passanten. En Avant hat dem Örtchen Leben eingehaucht und seinen Bewohnern Stolz geschenkt. Über den Fußball kann sich das kleine Provinznest schließlich sogar mit den Metropolen messen!
Los ging das Märchen Mitte der 1970er Jahre. Zunächst „nur“ als „Pokalschreck“ gefürchtet, gelang En Avant („Vorwärts“) Guingamp 1995 einigermaßen überraschend der Durchmarsch von der dritten bis in die erste Liga, wo man im ersten Jahr bis in den UEFA-Cup stürmte und sich plötzlich Inter Mailand gegenübersah. Als „Zaubertrank“ fungierten Kollektivgeist und die Besinnung auf bretonische Wurzeln. Große Teile des Erfolgskaders stammten aus der Region – darunter Stéphane Guivarc’h, der 1998 mit Frankreich Weltmeister wurde und aus Concarneau stammt, Stéphane Carnot aus dem Dörfchen Saint Yvy unweit von Quimper, Lionel Rouxel aus dem benachbarten Dinan sowie Publikumsliebling Claude „Coco“ Michel aus Rostrenen bei Carhaix.
En Avant Guingamp ist aber mehr als nur ein Fußballklub. Der Verein ist so etwas wie der fußballerische Flügel der bretonischen Kulturbewegung. Im Vereinslogo prangt das uralte keltische Symbol „Triskel“, auf den Rängen werden bretonische Lieder gesungen und mit seinem keltischen Gustus erreicht der Verein in der traditionsverbundenen und überwiegend zweisprachigen Nordbretagne auch die Nichtfußballfans. Im gemütlichen Ortszentrum ist En Avant überall präsent. Selbst eine auf wissenschaftliche Publikationen spezialisierte Buchhandlung stellt stolz eine Abhandlung über den berühmtesten Vertreter der Stadt in sein Schaufenster. „En Avant, c’est la Bretagne“, versichert der rauschebärtige Besitzer: „En Avant, das ist Bretagne.“
Ihren Zenit erklommen die Rot-Schwarzen im Spieljahr 2002/03, als die späteren Chelsea-Stars Didier Drogba und Florent Malouda den Angriff bildeten und in einer atemberaubenden Rückserie nur haarscharf der erneute Sprung in den UEFA-Cup verpasst wurde. Anschließend kaufte die finanzkräftigere Konkurrenz das Erfolgsteam auf (Drogba zu Marseille, Malouda nach Lyon), und für Guingamp ging es zurück in die 2. Liga. Die Ausstrahlung des Vereins blieb ungebrochen – auch im Unterhaus strömten häufig mehr als 10.000 Zuschauer ins Stade Roudourou.
Guingamps Fans kommen aus der gesamten Nordwestbretagne. Am Spieltag pendelt Reisebus um Reisebus in die Kleinstadt und spuckt stolze Bretonen aus. Gar 40.000 Fans unterstützten die Elf aus der 8.000-Seelen-Gemeinde am 9. Mai 2009, als En Avant im französischen Pokalfinale auf den bretonischen Nachbarn und Erstligisten Stade Rennes traf. Ehrfürchtig verneigte sich Frankreich seinerzeit vor den „unbeugsamen Galliern“, die im Halbfinale mit einem 2:1 bei Champions-League-Anwärter Toulouse für eine faustdicke Sensation gesorgt hatten. Im zum bretonischen Volksfest geratenen Finale krönte der Zweitligist seinen Siegeszug und holte den Coupe de France in die Nordbretagne. „Les paysans sont de retour“, sangen die 40.000 Guingampais glückselig. „Die Bauern sind zurück“.
Guingamps Erfolgsbasis sind Kontinuität und regionale Aura. Zu den langjährigen Unterstützern zählen der im benachbarten St. Brieuc ansässige Nahrungsmittelhersteller „Jean Stalaven“, die regionale Fluggesellschaft „Brit Air“ sowie die lokale Käserei „Rippoz“, die ganz Europa mit Raclette versorgt. Dass Guingamp zudem für Bodenständigkeit, Realismus und harte Arbeit steht, hat viel mit Noël Le Graët zu tun. Der langjährige Vereinspräsident, Vorsitzende des französischen Ligaverbandes LNF (vergleichbar der DFL) und ehemalige Bürgermeister von Guingamp ist trotz seiner Ämterhäufung ein bodenständiger und zugänglicher Mensch geblieben, der seine Wurzeln und seine Heimat schätzt. Er nimmt sich Zeit für die Menschen, hört ihnen zu. Kein Wunder, dass En Avant Guingamp als der wohl familiärste Profiverein in Frankreich gilt. Weltstar Didier Drogba schwärmt noch heute von seinen Tagen in der nordbretonischen Provinz. Nur das raue Wetter und der ländliche Charakter mit dem beschaulichen Lebensrhythmus bereitet den vergnügungssuchenden Profis bisweilen Probleme.
Sportlich ging es nach dem Pokalcoup und den aufregenden Europa-League-Duellen gegen den Hamburger SV turbulent weiter. Mit gefüllten Schatullen und hohen Ambitionen auf die Rückkehr in die 1. Liga ausgestattet, fand sich En Avant nur zwölf Monate später in der Drittklassigkeit wieder. Der Verlust von Torjäger und Pokalheld Eduardo zu Racing Lens hatte nicht kompensiert werden können. Schlimmer jedoch: zwischen Team und Publikum tat sich eine nie zuvor erlebte Entfremdung auf. Wütend protestierte die Fankurve „Kop Rouge“ gegen die leidenschaftslosen Legionäre im eigenen Team. Das „gallische Dorf“ drohte seinen Zaubertrank zu verlieren.
Der Abstieg erwies sich als reinigender Prozess. Im ersten Anlauf gelang die Rückkehr in Liga 2, und dort hat sich die Elf um den jungen Trainer und gebürtigen Bretonen Jocelyn Gourvennec nach einer starken Hinrunde in der Spitzengruppe eingenistet. Die Fans strömen wie eh und je. Zum Gipfeltreffen gegen Bastia kamen im Dezember fast 15.000 Zuschauer. Stolz ist man aber vor allem auf die gelungene Rückkehr zu alten Werten. „Fidélité, Fair-play, ferveur“ – “Treue, Fairplay, Leidenschaft”, lautet das wiederbelebte Motto der Anhängerschaft. Guingamps Publikum wurde in der Vergangenheit mehrfach als „bestes“ im Lande ausgezeichnet, weil es im Stade du Roudourou stets fair und respektvoll zugeht.
Man sollte sich von der niedlichen Idylle allerdings nicht täuschen lassen, denn in seiner Fußball-Infrastruktur ist En Avant nüchtern professionell. Das Stade Roudourou entspricht modernsten Vorgaben, der Betreuerstab dem eines gutgeführten Erstligisten und die hochgelobte Nachwuchsarbeit bescherte dem Klub zuletzt 2008 den Titel des französischen Jugendmeisters. Neben bretonischen Talenten sind es inzwischen vor allem junge Afrikaner, die in Guingamp ihren „letzten Schliff“ erhalten.
Das wiederum ist ein fröhlicher Anachronismus zur tiefverwurzelten konservativen Grundeinstellung vieler Nordbretonen, die zwar durchaus damit einverstanden sind, Franzosen zu sein, ihren Stolz jedoch ausschließlich für die Bretagne reservieren. Glaube also niemand, im Stade Roudourou würde auch nur eine einzige Tricolore flattern!
En Avant Guingamp
Gründungsdatum: 1912. Vereinsfarben. Rot-Schwarz. Stadion: Stade Roudourou (18.378 Plätze, davon 16.878 Sitzplätze)
Internet: http://www.eaguingamp.com/
Spielklassen: bis 1976 im Amateurlager. 1976/77: Division 3, 1977-93: Division 2, 1993/94: Division 3, 1994/95: Division 2, 1995-98 : Ligue 1, 1998-2000 : Ligue 2, 2000-04 : Ligue 1, 2004-10 : Ligue 2, 2010/11 : National (3. Liga), seit 2011/12 : Ligue 2
Bekannte Spieler : Didier Drogba, Florent Malouda, Stephan Guivarc’h, Xavier Gravelaine, Claude „Coco“ Michel
Größte Erfolge: Französischer Pokalsieger 2009. Französischer Pokalfinalist 1997. UEFA-Cup-Teilnehmer 1996, Europa-League-Teilnehmer 2009
Fans: Dachverband „Kop Rouge“ wurde 1993 gegründet und hat Ableger im Département Finistére (KR29), Paris (KRidef), Okzitanien (KRO) und sogar Deutschland (KRallemagne, http://krallemagne.wordpress.com/). Die Heimfans stehen auf der Hintertortribüne Lateral Ouest (Westtribüne)
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