Freitag, 11. Juni 2010

Zum WM-Start

Zum WM-Start heute mal der Vorlauf des Kapitels "Afrika" aus der Weltfußballenzyklopädie. Wünsche allen eine tolle WM und viel Spass!


Ein Kontinent zwischen Lachen und Tränen
Afrika ist Lachen, ist Fröhlichkeit, ist Lebensfreude. Emotionen, die man in Afrika auch in jedem Fußballstadion sieht. Da wird fröhlich getanzt, getrommelt, gelacht und gesungen – häufig sogar unabhängig vom Spielstand.
Aber Afrika ist auch Krieg, Blutvergießen und Hass. Kein einziger afrikanischer Staat ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges von bewaffeneten Auseinandersetzungen verschont geblieben. Kein einziger! Da wüteten dem Wahnsinn nahe Schlächter wie der Ugander Idi Amin oder der Zentralafrikaner Jean-Bédel Bokassa. Da versuchten sich Ethnien gegenseitig auszulöschen – wie die Hutu und die Tutsi in Ruanda und Burundi. Da ergriffen skrupellose »Warlords« die Macht und nahmen ihre Völker als Geiseln – wie in Somalia. Auslöser waren häufig die Hinterlassenschaften einer Kolonialepoche, die der so genannten »Ersten Welt« auf Kosten von Afrika wirtschaftliche Prosperiät beschert hatte. Jahrhundertelang war Afrika eine gewaltige Ressorcenkammer für die »entwickelte« Welt – egal, ob sie sich nun kapitalistisch oder sozialistisch gab. Erst waren es Arbeitsklaven und Rohstoffe, dann nur noch Rohstoffe. Heute lädt Europa seinen Wohlstandsmüll in Afrika ab und bedient sich im Gegenzug an den Öl- und Diamantenressourcen eines Kontinents, den China zugleich mit Waren (und Fußballstadien!) überschwemmt, um eine neue Epoche der Abhängigkeit einzuläuten. Nimmt man das dramatische Bevölkerungswachstum, die exorbitante AIDS-Rate und die fürchterlichen Bürgerkriege hinzu, wirkt Afrika wie ein »verlorener Kontinent«.
Zu den begehrten Ressourcen des Kontinents gehören auch Fußballer. Schon zwischen den beiden Weltkriegen stiegen Nordafrikaner wie Larbi Benbarek in Frankreich und Spanien zu Fußballstars auf. In den 1950er Jahren machten Größen wie Just Fontaine, Salif Keïta und Eusébio in Frankreich bzw. Portugal Weltkarriere. Mit Zaïres WM-Qualifikation 1974 rückte Schwarzafrika erstmals ins globale Blickfeld, ehe Kameruns WM-Auftritt von 1990 einen Exodus auslöste, hinter dem inzwischen ein gewaltiger Apparat steht. Allein das Fußballinternat von ASEC Abidjan (Elfenbeinküste) hat bereits hunderte von Fußballprofis für den Weltmarkt ausgebildet. Für Afrika ist dies eine zweischneidige Entwicklung. Einerseits verschafft der Fußball Afrikas Jugend eine attraktive Karriereperspektive, zumal zur afrikanischen Lebensphilosophie gehört, dass jemand, der Geld verdient, die gesamte Familie versorgt. Die Einkünfte eines Didier Drogba gehen also auch in dessen Heimat. Andererseits ist der Kontinent personell inzwischen völlig ausgeblutet. Im Frühjahr 2009 wurde erstmals eine Kontinentalmeisterschaft ausgespielt, bei der nur Spieler zugelassen worden waren, die noch in ihren Heimatländern spielen – also diejenigen, deren Talent selbst für moldawische oder färingische Klubs nicht reicht. Im Schatten von Eto’o und Drogba existiert eben noch eine zweite afrikanische Fußballwahrheit.
Die wirtschaftliche Ausbeutung setzte sich für viele afrikanische Staaten auch nach Erlangung der Unabhängigkeit fort. Das betrifft nicht zuletzt den Fußball. Beschränkte sich die »Erste Welt« bis in die 1980er Jahre noch darauf, Afrikaner zwar in Klub-, nicht aber in Länderteams einzusetzen (Ausnahmen bildeten Akteure wie Just Fontaine oder Eusébio, die aber noch zu Kolonialzeiten für Frankreich bzw. Portugal aufliefen), werden Afrikaner seit den 1990er Jahren zunehmend »nationalisiert« und fallen damit für ihre Heimatländer aus. Gerald Asamoah, Emmanuel Olisadebe, Emile M’Penza und Ibrahim Ba waren die ersten, die diesem Trend folgten und eine neue Staatsbügerschaft annahmen.
Afrikas Fußballprobleme sind vielfältig. Das gilt vor allem für Schwarzafrika. Während im Norden fast ein europäischer Standard erreicht wird, existiert südlich der Sahara nur in wenigen Ländern ein Netz seriös geführter Vereine; ist Profifußball von wenigen Ausnahmen abgesehen unbekannt. In vielen Ligen dominieren Korruption, Gewalt und Willkür. Zahlreiche Klubs unterliegen dem Einfluss fragwürdiger »Businessmänner«, und über allem stehen nationale Fußballverbände, die nicht selten der Willkür ihrer politischen Landesführung ausgesetzt sind. Auf keinem anderen Kontinent sind die Verbindungen zwischen Fußball und Politik so ausgeprägt, wie in Afrika. Dass Roger Milla 1990 zur WM nach Italien reiste, erfolgte nur auf Anweisung von Kameruns Staatschef Biya. Dass Nigeria sein Potenzial nicht abrufen kann, liegt nicht zuletzt an einem Dauerkonflikt zwischen der zumeist militärischen Regierung und dem Fußballverband. In Ländern wie Ghana, Mali, Guinea, Südafrika, Elfenbeinküste und Zaïre (DR Kongo) ist oder war Fußball politisches Werkzeug, um ethnische Spannungen zu überwinden oder Werbung in eigener (politischer) Sache zu machen. Das muss nicht automatisch negativ sein, denn in Südafrika beispielsweise haben Fußball und Rugby enorm geholfen, die Apartheid zu überwinden.
Eingeführt worden war das Spiel von den Kolonialmächten; allen voran Großbritannien. Südafrika machte in den 1880er Jahren den Anfang. Erste Fußballhochburg wurde aber Nordafrika, wo sich Briten, Franzosen und Spanier engagierten. Freilich konnte man nirgendwo von einem »afrikanischem« Fußball sprechen. Vielmehr waren es Europäer, die auf afrikanischem Boden spielten. Nichtsdestotrotz wurde das Spiel über das Militär, die Kolonialschulen und die kirchlichen Missionen in die heimische Bevölkerung hineingetragen und von dieser mit Begeisterung aufgegriffen. Inwieweit sich die Kolonien anschließend fußballerisch weiterentwickeln konnten, war abhängig von der Politik der Kolonialmacht. So kannten die portugiesischen Kolonien zwar keinen Rassismus, dafür kümmerte sich Portugal aber auch nicht um ihre Entwicklung sondern beschränkte sich auf die Ausbeutung der Ressourcen – und dazu gehörten Fußballer wie der Mosambikaner Eusébio. Frankreich gibt ein differenzierteres Bild ab. Während in Senegal eine in Frankreich ausgebildete afrikanische Elite die Grundlage zur großräumigen Westafrikaliga legen konnte, durften afrikanische Fußballer in Kamerun nicht einmal französische Klubnamen führen. Großbritannien betrachtete Sport als Bestandteil seiner kolonialen »Entwicklungspolitik« und förderte den Fußball dementsprechend – immer vorausgesetzt allerdings, er stellte nicht den Machtanspruch der britischen Krone in Frage…
Genau das aber tat der Fußball mit dem Aufkommen der Unabhängigkeitsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt. Wie in Nigeria, Algerien und Tansania wurden Fußballspiele auch in anderen Ländern »nebenbei« für politische Veranstaltungen benutzt und dienten als »Deckmantel« für politische Arbeit oder Werbeträger für die Unabhängigkeitsbewegungen. Mit Erlangung der staatlichen Selbständigkeit wurde das Spiel dann zum Staatssports. So sah Ghanas erster Präsident Nkrumah im Fußball ein geeignetes Mittel, um sein multiethnisches Land zu einen. Mit den »Real Republicans« schuf er sogar eine Art Vereins-Nationalmannschaft, die große Erfolge feierte. Auch Guineas dreifacher Kontinentalmeister Hafia FC Coankry stand unter dem Regierungsprotektorat, während Senegals WM-2002-Qualifikation ein Regierungswechsel vorausgegangen war. Dass Liberias Fußballstar George Weah nach seiner Karriere eine politische Laufbahn einschlagen konnte, zeigt, dass es auch andersherum funktionieren kann.
Die Abarbeitung von Nationalismus und Patriotismus über den Fußball ist jedoch nicht ungefährlich. So wurden die Nationalspieler der Elfenbeinküste 2000 in Militärlager verschleppt, weil sie bei der Afrikameisterschaft enttäuscht hatten, während Nigerias Shooting Stars 1984 die Auflösung drohte, nachdem sie das Endspiel um die Kontinentalmeisterschaft verloren hatten.
Afrika ist ein unglaublich fußballbegeisterter Kontinent. Nur wenige Länder stehen abseits – so wie Zentralafrika, wo der Basketball dominiert. Fußball in Afrika bedeutet Inspiration, Kreativität und Fröhlichkeit. Das betrifft nicht nur die Liebe zum schönen Spiel (ein technisches Kabinettsstückchen sorgt in Afrika immer für Jubel), sondern auch für das Drumherum. Auf keinem Kontinent gibt es derart phantasievolle Klubnamen. In Swasiland streiten die »Eleven Men in Flight« um den Ball. In Ghana sind die »Mysteries Dwarfs« (»Mysteriöse Zwerge«) unterwegs, und in Botswana faszinieren die »Township Rollers« die Massen. Keine Landesauswahl in Afrika kann ohne Spitzname auskommen – sei es die »Lone Stars« aus Liberia, Südafrikas »Bafana Bafana« oder Sambias »Chipolopolo« (»Gewehrkugeln«). Und nirgendwo ist Fußball von einer vergleichbaren Mischung aus Mystik und Exotik umgeben, wie in Schwarzafrika, wo die Anwendung von »muti« (Zauberkraft) elementarer Bestandteil im Fußballspielbetrieb ist.

Dieser Beitrag stammt aus der Fußballweltenzyklopädie, Band 2 (Afrika, Amerika und Ozeanien). Verlag Die Werkstatt, ISBN: 978-389533640-9, 472 Seiten, 39,90 €

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