Eine der schönsten Geschichten, die der Fußball schrieb, ist die des SV Algermissen 11 in den frühen 1930er Jahren. Ein Dorf im Niedersächsischen, das durch seine Fußballmannschaft berühmt wurde. Und eine Geschichte die so herrlich die wunderbare Welt des Fußballs dokumentiert. Hier ist sie:
Bitte mal die iPhones ausschalten,
Twitter und Facebook vergessen, die Farbe aus den Phantasiebildern kippen. Es
geht nach Algermissen, und da sind die Bilder schwarz-weiß.
Zumindest
waren sie das. Vor fast 80 Jahren, als Algermissen, ein winziges Kaff in der
Nähe von Hildesheim, noch den norddeutschen Fußball aufmischte. Und selbst den
großen Hamburger SV zum Zittern brachte.
Es
ist der frühe Morgen des 26. März 1933. Aufgeregt klettert eine Hundertschaft
glühstolzer Fans auf die Pritschen zweier Lastwagen. Ihr Klub, der kleine SV
Algermissen 11, steht vor der größten Stunde seiner Historie. Im Rahmen der
Endrunde um die Norddeutsche Meisterschaft muss er bei der Hamburger
Nobeladresse HSV vorspielen. Ein wahres Duell David gegen Goliath. Und jeder
will natürlich dabei sein. Auch wenn Hamburg unendlich weit weg ist. Auch wenn
die meisten von Ihnen die Großstadt nur vom Hörensagen kennen, bestenfalls mal
in Hildesheim oder Hannover gewesen sind.
Beim
großen HSV ist man ahnungslos, was da aus der niedersächsischen Provinz
anrollt. „H.S.V. – Alger-Nissen“ steht auf den Eintrittskarten. Doch
irgendjemand muss den Fehler im letzten Moment bemerkt haben, denn der falsche
Ortsname ist geschwärzt und in kleiner Schrift wurde rasch die richtige
Gegnerbezeichnung auf die Billets gepinselt.
Man
muss den Rothosen ihr Unwissen verzeihen. „Wer kannte schon vor Jahresfrist im
großen Fußballdeutschland das Dorf Algermissen?“, fragt das in München
erscheinende Fachblatt „Fußball“ im Vorfeld der Partie. „Heute gibt es wohl
keinen Fußballenthusiasten im ganzen Reich, dem der Name Algermissen noch nicht
zu Ohren gekommen wäre. Zu sensationell, und mit geradezu faszinierender
Sicher- und Stetigkeit ging der Aufstieg der ersten Fußballmannschaft des SV
von 1911 Algermissen vor sich, als dass man achtlos an ihm vorbeigehen konnte.
Ein Dorf wurde berühmt durch seine Fußballmannschaft.“
Werfen
wir kurz einen Blick auf die Fundamente des Algermissener Fußballwunders. Als
der Klub 1911 gegründet wurde, hatte sich Algermissen längst von einem Häufchen
bäuerlicher Betriebe in eine geschäftige Kleingemeinde verwandelt. 1846 war die
Bahnlinie von Hildesheim nach Lehrte eröffnet worden und hatte die Region aus
ihrem Tiefschlaf gerissen. Während in benachbarten Gemeinden Kaliförderung,
Käsereien oder Zuckerfabriken prosperierten, wurde Algermissen zum „Gänsedorf“.
Nahezu jedes aus Russland und Polen ins Deutsche Reich importierte Federvieh
kam zunächst nach Algermissen, wo es zur „Weihnachtsgans“ gemästet und
anschließend zu seinem Bestimmungsort irgendwo im Reich weitertransportiert
wurde. Bis zu 130.000 Mastgänse sollen in den 1920er Jahren jährlich in
Algermissen verklappt worden sein. „Zahlreiche Familien lebten über Generation
davon“, erzählt Heimatpfleger Gerhard Schütte über jene Tage, als Junggänse in
großen „Gänsepulks“ vom eigens errichteten „Gänsebahnhof“ über die Dorfstraßen
in die Stallungen der Gänsemäster getrieben wurden.
Der
Gänsebahnhof lieferte die wirtschaftlichen Voraussetzungen für Algermissens
Fußballwunder. Personell stehen drei Familien synonym dafür: Die Bettels, die
Deppes und die Willers. Der SV 1911 war quasi im Familienbesitz dieser drei
Geschlechter, die bisweilen nahezu komplett die Ligamannschaft bildeten und
entscheidenden Anteil am fulminanten Aufschwung des Gänsedorfs hatten. Der
wiederum setzte 1927 ein, als unweit des Algermissener Bahnhofs ein schmucker Sportplatz
eingeweiht wurde. Das Gemeinschaftsprojekt von Bahnmeisterei Hildesheim – die
das Material stellte – und SV 11 – sorgte für die Muskelkraft – ließ
Algermissens Fußballstärke explodieren. Federführend war dabei der Bahnbeamte
Aloys Eggers, der so etwas wie ein Manager, Mäzen und Mannschaftsbetreuer für
den SV 1911 war.
Die
dörfliche Erfolgsequipe erhielt unterdessen den bis heute gepflegten Beinamen
„Schwarze Elstern“. Ein Hommage an das Algermissener Ortswappen, in dessen
Zentrum eine Elster zu finden ist, sowie die schwarze Spielkluft der 11er. 1932
erreichte der Aufschwung seinen vorläufigen Höhepunkt. In einem dramatischen
Kopf-an-Kopf-Rennen gegen die „Schwarzen Husaren“ von Werder Hannover sicherten
sich die Algermissener die Zweitligameisterschaft und vollendeten mit einem 6:0
im Aufstiegsspiel gegen Germania Wolfenbüttel ihren wundersamen Aufstieg.
Plötzlich durfte das damals 2.700 Köpfe zählende Gänsedorf mit Fußballgrößen
wie Hannover 96 und Eintracht Braunschweig um Punkte ringen. Das Erfolgsrezept
war einerseits klassischer Dorffußball, basierend auf kaum zu beugender Hingabe
und bäuerlicher Kraft, andererseits aber auch ein hohes Maß an taktischem
Verständnis und erstaunlichen technischen Fähigkeiten. Heimatforscher Schütte:
„Es gab damals einen kleinen Kapellenhof mit Mauern drum herum, auf dem die
Jugend Fußball spielte. Weil es dort so eng war, musste man lernen, sich
technisch durchzusetzen.“ Ehrfürchtig sprach die Regionalpresse in Anlehnung an
Schalke 04 vom „Algermissener Kreisel“.
Die
Fans im Gänsedorf spielten verrückt. Auf dem Sportplatz am Grasweg herrschte
Ausnahmezustand, wenn die „Schwarzen Elstern“ aufspielten. Bis zu 5.000
Menschen drängelten sich auf dem engen Platz. Algermissen lebte den Fußball.
Legendär die freitägliche Diskussionsrunde auf dem Bahnhofsvorplatz, die
geführt wurde von Mannschaftsführer Hans Benner. Jedes Wochenende reiste der
Medizinstudent von Tübingen aus in sein Heimatdorf und wurde dort von einer
vielköpfigen Fanschar empfangen. „Mit dem redegewandten
Fußball-Mannschaftsführer diskutierte die begeisterte Menschenmenge über die
Aufstellung für das Sonntags-Punktspiel in Deutschlands höchster Spielklasse“,
erinnert sich Heimatpfleger Schütte und konstatiert: „das war in Algermissen
Kult“.
Mit
den heißblütigen Fans im Rücken war Algermissen 11 auf eigenem Platz kaum zu
bezwingen und setzte seine Erfolgsserie 1932/33 fort. Am Ende verpassten die
„Schwarzen Elstern“ nach einem 2:2 gegen Arminia Hannover zwar den Staffelsieg,
qualifizierten sich aber für die Endrunde um die Norddeutsche Meisterschaft.
Und trafen plötzlich auf den großen Hamburger SV. „Das war natürlich eine
Sensation. Der HSV, das war ja einer der ganz, ganz großen Vereine damals. Das
ganze Dorf redete nur noch von dem Spiel“, erzählt Schütte.
Und
natürlich wollte jeder beim epischen Duell dabei sein. Doch wie sollte das
gehen? Zu den Ligaspielen in Hannover oder Braunschweig fuhren die meisten Fans
entweder mit dem Fahrrad oder mit dem Zug, für den es Sonntags immer
verbilligte Fußballtickets gab. Hamburg jedoch lag unerreichbar fern. Mit dem
Fahrrad zu weit, die Bahnbillets schlicht zu teuer. Um die heimischen Anhänger
trotzdem zum Stadion Rotenbaum zu bringen, stellten die örtliche Getreidefirma
„Weiterer“ schließlich einen Planwagen und das Fuhrunternehmen „Niemann“ einen
Möbelwagen für
die 200 Kilometer weite Reise.
100
mutige junge Männer versammelten sich am frühen Morgen des 26. März 1933 vor
der Algermissener Vereinsgaststätte „Domschänke“. Die eine Hälfte kletterte auf
den geschlossenen Niemann-Möbelwagen, die andere erklomm die Pritsche des
normalerweise zum Getreidetransport benutzten Weiterer-Laster. Zehn Stunden
Fahrzeit wurden bei einer Höchstgeschwindigkeit von 28 km/h kalkuliert. Über
Burgdorf, Celle und Soltau zockelte der ungewöhnliche Fantross durch den
anbrechenden Morgen in Richtung Hamburg. Konrad Weiterer, damals 15 und auf dem
Pritschenwagen dabei: „Wir saßen auf Bretterbänken und Stühlen. Dreimal musste
ein Reifenwechsel vorgenommen werden.“ Während Weiterer und seine Mitfahrer mit
dem feinen Mehlstaub auf dem Getreidetransporter zu kämpfen hatten und sie mit
mehlweißen Gesichtern und Klamotten in Hamburg ankamen, hatten die Reisenden
auf dem Möbelwagen ganz andere Probleme: „Obwohl die Tür einen Spalt
aufgelassen wurde, damit wir Luft bekamen, war es stockdunkel. Die Abgase
bliesen in den Innenraum und verrußten alles“, berichtete der damals 29jährige
Clemens Köhler. Komfortabel war die Reise wahrlich nicht. „Wir hatten nur ein
paar Kisten Bier an Bord. Zum Wasserlassen nutzten wir eine Ecke auf dem LKW.
Entsprechend stank es bald, und überhaupt war die Luft ziemlich stickig.“ Und
auch von der Fahrt bekamen die Fans nicht allzu viel mit. „Irgendwann rief
LKW-Fahrer Hermann Niemann ‚jetzt fahren wir über die Elbe’ nach hinten. Doch
keiner von uns konnte die Elbe sehen.“
Als
die kuriose Kolonne vor dem HSV-Stadion ankam, staunte die Großstadt nicht
schlecht. Fotografen stürmten herbei, knipsten Fotos von den entweder
mehlweißen oder rußschwarzen Gesichtern der Algermissener Anhänger. Dann
marschierte die Gruppe ins Stadion und bezog Position beim größten Spiel der
Vereinsgeschichte. „Fahnen gab es damals nicht. Organisierte Anfeuerungen auch
nicht. Es wurde nur gerufen oder gebrüllt“, erzählt Heimatforscher Schütte.
Die
im Gänsedorf gebliebenen Fans mussten unterdessen bis zur Rückkehr von Fans und
Mannschaft am nächsten Tag warten, ehe sie vom Spielausgang erfuhren. Schütte:
„Wenn irgendwo in der Nähe gespielt wurde, hat man die Ergebnisse per
Brieftauben nach Algermissen übermittelt. Von Hamburg aus ging das nicht. Es
gab zwar schon ein paar Radios im Dorf, doch eine Übertragung von dem Spiel
fand nicht statt.“ Und so hörte Algermissen erst mit erheblicher zeitlicher
Verzögerung, dass der Dorfklub den großen HSV an den Rand einer peinlichen
Pleite gebracht hatte. Denn erst kurz vor dem Abpfiff gelang dem hohen
Favoriten der glückliche 1:0-Siegtreffer. Ausgerechnet Spielertrainer und
Verteidiger Hans Benner, jener Mann, der Freitags immer die Taktik und die
Aufstellung mit den Elstern-Fans durchging, unterlief dabei der
spielentscheidende Fehler, als er einen Eckball unterlief.
Bis
zum Beginn des Zweiten Weltkriegs schwelgte das „Gänsedorf“ noch im kollektiven
Fußballfieber. Ein weiterer Höhepunkt wurde am 25. März 1934 erreicht, als es
in Algermissen zum Gauligaspitzenspiel gegen Arminia Hannover kam. Seinerzeit
berichtete die Presse: „Hunderte von Autos parkten rund um das Bahnhofsgelände
einschließlich Güterbahnhof. Tausende und mehr Fahrräder machten die
Dorfstraßen nahezu unpassierbar. Fast die gesamte Gendamerie des Kreises
regelte den Massenbetrieb reibungslos. Zahlreiche Fußgänger kamen aus Orten bis
zu zehn Kilometer Entfernung. Aus Hannover traf sogar ein Reichsbahn-Sonderzug
ein. 5.000 Zuschauer – ein bislang einmaliger Rekord für Algermissen – drängten
sich auf dem Sportplatz.“
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