Ich habe ja schon einiges mitgemacht in meiner Laufbahn als Fußballfan, aber das, was ich am vergangenen Samstag mitmachen musste bzw. durfte toppt alles bislang Dagewesene.
Es dürfte allgemein bekannt sein, dass ich neben meinem
Heimatverein Göttingen 05 auch dem englischen Klub Bristol Rovers sowie dem
bretonischen Verein En Avant Guingamp Plätze in meinem Herz eingeräumt habe.
Beide Verbindungen sind bereits mehr als zwei Jahrzehnte alt, kamen einst aus
persönlichen Gründen zustande (in der Nähe von Bristol lebte ich eine Zeitlang,
in der Nähe von Guingamp arbeitete ich eine Zeitlang) und wuchsen mir über die
Jahre sehr ans Herz.
Am Samstag nun hatten beide Mannschaften entscheidende
Spiele vor der Nase. Die Rovers mussten im Heimspiel gegen Mansfield Town noch
mindestens einen Punkt erringen, um nicht aus Division 2 und damit der Football
League abzusteigen, Guingamp traf im Finale um den französischen Landespokal im
Stade de France auf Stade Rennes. Mich führte der Weg nach Paris, denn ein
Pokalfinale verpasst man natürlich nur ungerne. Schon 2009 war ich im Stade de
France dabei gewesen, als die Guingampais – damals als Zweitligist - gegen eben
jenen Gegner von 2014, also Stade Rennes, mit 2:1 gewonnen und damit erstmals
den Coupe de France in die Nordbretagne geholt hatten. Anschließend ging es in
der Europa League zum Hamburger SV.
Anpfiff des Endspiels war um 21 Uhr. Vorher war also
reichlich Zeit, die Emotionen und Hoffnungen nach Bristol zu lenken, wo die
Rovers vor ausverkauftem Haus um ihr Überleben in der Football League stritten.
Eine Bekannte versorgte mich per SMS direkt aus dem Memorial Stadium von den
Ereignissen. Es begann gut, denn kaum hatte ich den Nahverkehrszug, der mich
von meinem Campingplatz nördlich von Paris zum Stade de France brachte betreten,
kündete ein „plink“ vom 0:1-Rückstand Northamptons – es lief also für meine
„Pirates“. Doch der Nahverkehrszug hatte seine halbstündige Reise noch nicht
beendet, da zerstörten weitere „plinks“ die Zuversicht. Wycombe führte in
Torquay, Northampton drehte den Rückstand zur Halbzeit in eine 2:1-Führung und
die Rovers lagen hinten. Noch 45 Minuten zu spielen, und der Abstieg war
plötzlich bitter nah. Die zweiten 45 Minuten waren eine Tortur. Während ich mit
rund 40.000 siegeshungrigen Guingampais zum Stade de France marschierte,
umklammerte ich mein Handy und wartete sehnsüchtig auf das nächste „plink“, das
mir den rettenden Ausgleich verkünden würde. Allein: es kam nicht. Als es 17.45
Uhr war und in England abgepfiffen wurde, dämmerte mir allmählich, dass das
Unvorstellbare eingetreten war. Kurz darauf kam die Bestätigung, auf drei
Kanälen gleichzeitig: relegated.
Umringt von fröhlich singenden Guingampais stand ich unter
Schock. Abstieg ist ja schon schlimm, aber Abstieg aus der Football League? Nach 94 Jahren ununterbrochener Zugehörigkeit? Und
ausgerechnet jetzt, wo nach 20 Jahren des Wartens endlich ein neues Stadion
für die Rovers gebaut werden soll? Während ich in lähmender Schockstarre verharrte,
blickte ich in die fröhlichen Gesichter bretonischer Freunde, die mich voller
Zuversicht auf einen positiven Ausgang des Pokalfinales – allgemein
ausgemachter Treffpunkt war 18 Uhr - begrüßten. Während ich mich fragte, in was
für einen Horrorfilm ich da reingeraten war. Denn wie soll man jubeln, wenn man
weinen möchte? Und wie soll man weinen, wenn man jubelt? Die brutale zeitliche
Kollision von der Schocknachricht aus England und der quasi zeitgleich
einsetzenden allgemeinen Vorfreude auf das Finale war schlicht zerreißend. Verzweifelt
warf mich an die Schultern befreundeter Guingampais, erzählte von meinem Leid,
hörte mir tröstende Worte an. Doch wie sollte mich jemand wirklich verstehen? War
ich aus ihren Augen nicht schon verrückt genug? Ein Deutscher, der wegen
Guingamp nach Paris fährt? Und nun weint der auch noch wegen, „wen bitte?“, Bristol
Rovers? „In welcher Klasse spielen die“, fragten einige. „Bislang vierte Liga,
nun fünfte“, antwortete ich mit stockender Stimme – dafür immerhin bekam ich dann
ein paar mitleidsvolle Blicke.
Ich will es kurz machen: die ohnmächtige Trauer über den
nicht mehr erwarteten Abstieg – nicht einmal hatten die Rovers zuvor im
Saisonverlauf auf einem Abstiegsplatz gestanden! – hielt den ganzen Abend über
an. Nur langsam ließ ich mich mitreißen von der Pokalfinalstimmung und gab mich
schließlich leicht widerwillig und zugleich mit vollem Herzen dem berauschenden
Gefühl hin, mit der eigenen Mannschaft im Pokalfinale zu stehen. Das wiederum
war im Grunde genommen ebenfalls unfassbar. 2010 war ich mit Guingamp noch zu
Drittligaspielen gereist. Alfortville, Plabennec, Bayonne etc. hatten die
Gegner damals geheißen. 2011 dann die Rückkehr in Ligue 2 und 2013 sogar die in
Ligue 1. Beim entscheidenden 1:0 über Ajaccio in Gueugnon, wo Ajaccio wegen
Platzsperre hatte spielen müssen, war ich seinerzeit vor Ort gewesen. Wider
erwarten schlugen sich die Nordbretonen 2013/14 in der erste Liga prima,
wenngleich der Klassenerhalt noch nicht in trockenen Tüchern ist. Und im Pokal
hatten sie Losglück. Unterklassige Gegner bis zum Halbfinale, wo mit Monaco
einer der beiden „Großen“ in Frankreich geschlagen wurde. Damit war das dritte
Pokalfinale nach 1997 (Elfmeterschießen-Niederlage gegen Nizza) und 2009 (das
erwähnte 2:1 gegen Rennes) erreicht – das „kleine gallische Dorf“ hatte mal
wieder zugeschlagen.
Guingamp passt in der Tat bestens in die Legende vom
„kleinen gallischen Dorf“. Die Stadt liegt in der Nordbretagne im Departement
Côtes d’Armors (22), ungefähr zwischen Brest und Rennes und damit genau in dem
Kreis, der in jedem Asterix von der Lupe hervorgehoben wird. Keine 8.000
Einwohner zählt die Kernstadt, und das Departement ist von Landwirtschaft
geprägt. Dass ein Teil der Fans allerdings per Treckerkorso nach Paris gefahren
sein soll (http://www.11freunde.de/artikel/ein-trecker-convoy-zum-franzoesischen-pokalfinale),
war dann doch eine Ente à la “Postillon“, auf die aber u.a. die „11 Freunde“
hereinfielen. Wenige Tage vor dem Finale hatte eine französische Satirezeitung
übrigens bereits gemeldet, Bretonen dürften das Stade de France am Finaltag wegen
der anhaltenden Bauernproteste nicht betreten – auch das hatten einige für bare
Münze genommen. In Guingamp kokettiert man freilich gerne mit seinem
„Dorfimage“ und ruft fröhlich „Les Paysans sont de retour“ – „Die Bauern sind
zurück“. Bei meinem diversen Besuchen vor Ort habe ich im Stadtgebiet von
Guingamp allerdings noch nie einen Trecker fahren sehen – das nur so
nebenbei (statt dessen gibt es in Guingamp sogar Verkehrsampeln!).
Wie 2009 lautete das Pokalfinale Guingamp gegen Rennes und
war damit erneut ein rein bretonisches. Rennes ging mit Schaum vor dem Mund in
die Partie. Die Niederlage von 2009 schmerzte noch immer, und 2013 hatte man im
Finale gegen Sochaux verloren. Im dritten Finale binnen fünf Jahren sollte es
2014 nun endlich klappen für einen Verein, der von seiner Geschichte, seiner
Bedeutung, seiner finanziellen Ausstattung und seinem Spielermaterial gegenüber
Guingamp deutlich im Vorteil war. Allerdings gilt Guingamp seit Jahren als
Angstgegner der Rennais – beide Ligaspiele 2013/14 gingen mit 2:0-Siegen für
die Costamoricains aus.
Die Stimmung im Umfeld des Stade de Frances war großartig
und außerordentlich fröhlich. Polizei und Sicherheitskräfte waren zwar
reichlich anwesend, konnten sich aber gemütlich zurückhalten. Beide Fangruppen
hegen Respekt voreinander, und als gemeinsames Feindbild gilt Stade Brest. So
kam es vor dem Spiel zwar zu Frozzeleien auf beiden Seiten, doch ebenso häufig
stellte man sich auch für gemeinsame Bilder auf. Natürlich immer unter der verbindenen
Fahne der Bretagne. „Und am Ende gewinnt die Bretagne“, hatte ein Rennes-Fan
auf sein T-Shirt geschrieben, während ein Vater seinem kleinen Sohn – beide in
Guingamp-Kleidung - erklärte: „die sind zwar heute unsere Gegner, aber zuerst
sind es auch Bretonen“.
Die 80.000 Plätze im Stade de France waren etwa zur Hälfte
mit Anhängern beider Lager besetzt. Wenn mich meine Augen nicht täuschten, dann
waren es sogar ein paar mehr Guingampais als Rennais, denn neben der Südkurve
gehörte auch die Gegengerade fast komplett den Nordbretonen, während auf der
Hauptgeraden Ehrentribüne und Pressetribüne „fanfrei“ waren. Unter den
Guingampais waren auch eine Handvoll Auxerre-Anhänger, deren Mannschaft im
Vorspiel um den Jugendpokal gegen Stade Reims gespielt und gewonnen hatte.
Auxerre und Guingamp pflegen seit vielen Jahren eine freundschaftliche
Fanbeziehung.
Wie 2009 ertönte vor der französischen Nationalhymne die
bretonische Hymne, doch ungleich 2009, als die 80.000 bei der bretonischen
Hymne mitsangen und bei der Marseillais schwiegen, wurde diesmal auch die
französische Hymne mitgeträllert – vereinzelt waren sogar ein paar
Tricolore-Fahnen unter den rot-schwarzen (Guingamp und Rennes) bzw. schwarz-weißen
(Bretagne) Tüchern zu sehen. Beide Kurven präsentierten vor dem Anpfiff eindrucksvolle
Choreografien, wobei die der Guingampais nach Einschätzung der Medien als
beeindruckender empfunden wurde. Über drei Ränge hinweg leuchtete in der
Südkurve „Gwengamp 1912“ (Gwengamp ist die bretonische Schreibweise von
Guingamp), während Rennes sich mit einem schlichten schwarz-weiß-roten Banner
zeigte. „Guingamp gewinnt auch auf den Tribünen“, schrieb die L’Équipe“ Tags
darauf, „es waren die Costamoricains, die den Abend animierten“.
Zum Spiel will ich gar nicht so viel sagen, das kann
anderswo nachgelesen werden. Zu meiner Freude ergriffen die Guingampais von
Beginn an die Initiative und schnürten Rennes regelrecht in den eigenen
Strafraum ein. Mit einer beeindruckenden Präsens und Siegesmentalität
dominierte Guingamp die erste Halbzeit nahezu im Alleingang und ging
hochverdient mit einer 1:0-Führung in die Pause. Kaum war der Wiederanpfiff
ertönt, erhöhte Yatabaré quasi mit dem ersten Spielzug auf 2:0 und schockte die
Rennais damit endgültig. Während Guingamp jederzeit Herr der Lage war und mit
der 2:0-Führung im Rücken defensiv nichts anbrennen ließ, fiel Rennes absolut
nichts ein, und unsere Furcht, dass ein 2:1 das Spiel noch einmal öffnen
könnte, war unnötig. Es war ein fast „leicht“ herausgespielter Sieg, und was
die Rennes-Fans von der Leistung ihrer Mannschaft hielten zeigten sie am
nächsten Tag, als sie ihr Team beim Training zur Rede stellten. Verständlich
nach der dritten Finalpleite binnen fünf Jahren und einer Vorstellung, die an
einen eingeschüchterten Hasen erinnerte.
Nach dem Schlusspfiff übernahm viel zu schnell die
Stadionregie das Kommando und tötete die fröhliche Jubelstimmung mit brutal
aufgedrehter Musik und einem straffen Feierkorsett ab. Ich werde es nie
verstehen. 40.000 Menschen singen fröhlich und feiern ihren Mannschaft. Niemand
muss diese Menschen animieren, der Jubel kommt aus ihnen selbst heraus. Und
doch knallt die Stadionregie irgendwelche nichtssagenden Popsongs ins Rund, um
„Stimmung“ zu erzeugen. Werden „Ici, c’est Guingamp“ und „Merci Guingamp“-Gesänge
vom scheinbar unverzichtbaren „We are the champions“ in ohrenbetäubender
Lautstärke abgetötet. Es sind Momente wie dieser, die mich am Fußball
verzweifeln lassen und einen Impuls in mir auslösen, damit nichts mehr zu tun
haben zu wollen. Der ganze inszenierte Pomp gipfelte in einem mit halbstündiger
Verspätung ausgelöstem Feuerwerk, bei dem man den Eindruck hatte, für die
Veranstalter war dies der eigentliche Höhepunkt des Abends – und nicht etwa das
Spiel. Warum braucht es ein Feuerwerk am Ende eines Fußballspiels?
Als unangenehmer
Nebeneffekt ergab es sich zudem, dass unmittelbar nach der letzten Rakete –
inzwischen war es weit nach Mitternacht – alle Zuschauer gleichzeitig aus dem Stadion
strömten und auf den Abmarschwegen absolut kein Durchkommen mehr war. Da mein
letzter Zug ziemlich zeitig fuhr, geriet ich sogar noch einmal tüchtig ins
Schwitzen und konnte über die Organisation eigentlich nur den Kopf schütteln – nicht
auszudenken, wenn es da zu einer Panik gekommen wäre. Aber dann wären
vermutlich „Chaoten“ Schuld gewesen, hätte die hochbewaffnete Polizei „durchgegriffen“…
Dann war er vorbei, dieser 3. Mai 2014, ein Tag, der sich
für mich für immer als der Tag zwischen Hölle und Himmel eingebrannt hat. Ein
Tag, an dem ich erst in die „Conference“ abstieg und dann den Pokal gewann.
Verrückt, was der Fußball so alles mit einem anstellen kann. Nicht zuletzt
deshalb wird 2013/14 als eine (hoffentlich) einzigartige Saison in meine
Biografie eingehen. Denn neben dem Pokalsieg mit Guingamp und dem Abstieg mit
den Rovers steht da auch noch das irrlichternde Dasein von Göttingen 05, jenem
Verein, von dem ich mich nach fast 40 Jahren abgewandt habe. Ein zuvor gänzlich
undenkbares Szenario, und doch aufgrund der Entwicklung beim neugegründeten I.
SC 05 in meinen Augen unvermeidlich.
Nun hoffe ich, dass wenigstens der
Super-GAU verhindert wird und Guingamp am 17. Mai im letzten Saisonspiel den
Klassenerhalt wird feiern können. Ich werde jedenfalls live dabei sein beim
Schlussspiel gegen Olympique Marseille im Stade Vélodrome.
La Coupe est à nous - Rovers till I die!
P.S.: wer etwas mehr über die Hintergründe des Abstiegs der Rovers erfahren möchte - ein Birmingham-City-Fan mit Sympathien für die Pirates hat das in einem Blogbeitrag ganz ausgezeichnet getan! Hinzuzufügen gibt es da eigentlich nur noch, dass das Stadion gemeinsam mit der University of Wstern England (UWE) gebaut und betrieben wird, das finanzielle Risiko als nur zur Hälfte in den Händen des Vereins liegt. Hier geht's zu dem Artikel (auf Englisch): http://nattubes.wordpress.com/2014/05/05/a-horrible-day-for-bristol-rovers/
La Coupe est à nous - Rovers till I die!
P.S.: wer etwas mehr über die Hintergründe des Abstiegs der Rovers erfahren möchte - ein Birmingham-City-Fan mit Sympathien für die Pirates hat das in einem Blogbeitrag ganz ausgezeichnet getan! Hinzuzufügen gibt es da eigentlich nur noch, dass das Stadion gemeinsam mit der University of Wstern England (UWE) gebaut und betrieben wird, das finanzielle Risiko als nur zur Hälfte in den Händen des Vereins liegt. Hier geht's zu dem Artikel (auf Englisch): http://nattubes.wordpress.com/2014/05/05/a-horrible-day-for-bristol-rovers/
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen