Sonntag, 23. Juni 2013

Sassuolo - ohne Stadion in die Serie A

Hurra, mein erster "Gastbeitrag". Er stammt aus der Feder des hochgeschätzten Henning Tatje und dreht sich um den italienischen Erstligaaufsteiger US Sassuolo. Lest selbst:

Blättert man in italienischen Reiseführern sucht man vergebens nach Informationen über Sassuolo. Zu klein, zu unbedeutend scheint die Stadt in der Emilia-Romagna bisher zu sein. Aber unter den Reisejournalisten befinden sich in der Regel auch mehr Kunstinteressierte als Sportfanatiker. Dabei könnte nun auch die erstgenannte Gruppierung aufhorchen, denn die Unione Sportiva Sassuolo Calcio zeigt ab der Saison 2013/14 ihre Fußballkünste in der Serie A, der höchsten italienischen Fußballliga. Zeit also, sich näher mit dem Verein und seinem Umfeld zu beschäftigen.

Stadion
Vom Grenzübergang Como-Chiasso (Schweiz) sind es über die A1 knapp 3 Stunden, vom Grenzübergang Italien-Österreich über die Brennerautobahn A22 circa 4 Stunden bis man über die Ausfahrt Modena-Nord Sassuolo erreicht hat. Läßt man die Blicke nach links und rechts schweifen, sieht man riesige Firmengelände, auf denen neben großen Industriegebäuden überwiegend Fliesen lagern. Sassuolo ist als Fliesen-und Keramikstadt in ganz Italien bekannt. Allerdings hat es auch in diesem Wirtschaftszweig starke Einschnitte gegeben. Billigproduktionen in Übersee und China machen den Sassolesi zu schaffen. Die Arbeitslosenquote, früher kein gravierendes Problem in der Region, treibt den Einwohnern die Sorgenfalten in´s Gesicht. Viele haben Angst um die Zukunft. Das spürt man auch auf der Piazza Garibaldi, dem sozialen Zentrum in der recht attraktiven Fußgängerzone. Bei einem Espresso wird man hier seine Nöte für wenige Minuten los, zumal sich in den letzten Wochen ein anderes, weit vergnüglicheres Thema unter die Einwohner von Sassuolo gemischt hat. Der Fußballverein der Stadt hat in der Serie B zu einem Höhenflug angesetzt. Obwohl der Etat vor der Saison stark herunter gefahren worden ist, steht die US Sassuolo seit dem 1. Spieltag 2012/13 an der Spitze der zweithöchsten Liga Italiens. Mit einem 3-0 beim Serie A - Absteiger Cesena hatte die Truppe beim Saisondebüt aufhorchen lassen. Der Auftakterfolg blieb keine Eintagsfliege; schon bald konnte sich Sassuolo mit den beiden Favoriten Livorno und Hellas Verona absetzen.
Domenico Beradi (links)
Auch Rückschläge wie das 2-3 nach 2-0 Vorsprung in Livorno verkraftete das Team von Trainer Eusebio di Francesco problemlos. Di Francesco gilt es Ziehsohn von Trainerlegende Zdenek Zeman. Mannschaften von Zeman standen und stehen regelmäßig für Spektakel und viele Tore. Di Francescos große Qualität besteht aber neben der Offensivkraft vornehmlich im herausragenden Teamgeist. Und wie sein Vorbild Zeman zauberte auch di Francesco ein großes Stürmertalent aus dem Hut. Domenico Berardi hat es als 18-jähriges Talent bereits zu 10 Toren in der Serie B und zu 3 Einsätzen in der U19 Italiens gebracht. Weitere herausragende Spieler des US Sassuolo sind Torhüter Pomini und Kapitän Magnanelli, die beide schon einige Jahre für den Verein spielen. Francesco Magnanelli kam 2005 nach Sassuolo, als die Heimat des Vereins noch die altehrwürdige C2 (Vierte Liga in Italien) war. Er ist also irgendwie der Lumpi Lambertz von Sassuolo, wenn er ab August 2013 den Stadionrasen der Serie A betreten wird. So wie Lumpi für Fortuna Düsseldorf ist Magnanelli die Symbolfigur der Grün-Schwarzen. Ob nach dem historischen Aufstieg am 18.Mai 2013 auch die Hymne der Toten Hosen in der Emilia-Romagna gespielt wurde, ist dem Chronisten nicht bekannt. Aber "an Tagen wie diesen"  kann das schon passieren.

Die Heimfans
Wie kam es zu diesem "Wunder von Sassuolo" ? 

Im Jahr 1920 gegründet dümpelten die Grün-Schwarzen über Jahrzehnte in den unteren Ligen herum - aber wer erwartet in einer Stadt mit knapp über 40.000 Einwohnern schon viel mehr als die 5.Liga ? In den 80er Jahren erreichte die US Sassuolo erstmals die C2, die 4.Liga. Aber das Schlüsselerlebnis ereignete sich für die Fußballer der Arbeiterstadt im Jahr 2002, als Giorgio Squinzi mit seiner Firma MAPEI als Sponsor bei der Unione Sportiva einstieg. MAPEI unterhielt bis dato eine bekannte Profimannschaft im Radsport. Aber nun wendete sich der Großindustrielle Squinzi dem runden Leder zu. In den ersten beiden Jahren ohne großen Erfolg. Ab 2004 setzte Squinzi dann aber auf die richtigen Leute, auf den Präsidenten Carlo Rossi, den Sportdirektoren Nereo Bonato und immer auf den richtigen Trainer, die aber - wie in der Branche üblich - häufiger wechselten.2006 gelang der erstmalige Aufstieg in die C1 und mit Milans späterem Meistertrainer Massimiliano Allegri erreichte Sassuolo 2008 die Serie B. Patron Squinzi setzte weiterhin auf eine behutsame Entwicklung der Mannschaft; das Geld wurde nur sehr bescheiden in den Kader gesteckt. Mit der Serie B kam aber das erste größere Problem auf den Verein zu. Das städtische Stadion Enzo Ricci war mit seinen 5000 Plätzen nicht zweitligatauglich. Und so wich die US Sassuolo in die benachbarte Provinzhauptstadt Modena aus. Das Stadio Braglia wurde zum Schauplatz der Spiele der Serie B und damit auch zur Bühne für die Derbies gegen den AC Modena. Sassuolo und Modena verbindet eine 20 km lange Schnellstraße, die auch an der Ferrari-Hochburg Maranello vorbei führt. An den Spieltagen machten sich regelmäßig knapp 3.000 Sassolesi auf den Weg nach Modena. Sie sahen viele gute Spiele ihrer Lieblinge. Nach dem Aufstieg hatte man bis auf eine Ausnahme keine Absteigssorgen. 2010 und 2012 erreichte man sogar die playoff-Spiele um den Aufstieg in die Serie A.

Dort scheiterte man nicht nur an den großen Namen der jeweiligen Gegner, sondern in beiden Fällen auch an fatalen Schiedsrichterentscheidungen. Sassuolo blieb 2010 gegen das große AC Turin und 2012 gegen Sampdoria Genua auf der Strecke. Insbesondere der ungerechte K.O. gegen die Samp erboste Boß Squinzi so sehr, dass er seinen Mitteleinsatz für die Saison 2012/13 zurückfuhr und noch mehr auf Teamgeist und Esprit seines neuen Trainer Eusebio di Francesco setzte. Aber die Truppe schien keine Verwandten zu kennen. Die ersten 9 Spiele brachten der Mannschaft 25 Punkte. Auch die erste Niederlage in Cittadella verkraftete man ohne weitere Rückschläge. Mit 48 Punkten aus 21 Spielen stellte man sogar den Rekord der alten Dame Juventus Turin ein, die 2006/07 als Zwangsabsteiger dieselbe Punktzahl erzielte. Erst die Verletzung von Spielmacher Missiroli im März brachte Sassuolo ein wenig vom Erfolgsweg ab. Aber Anfang Mai hatte das Team dann drei Matchbälle. Ein Dreier fehlte zum großen Glück. Im Derby gegen Modena führte man bis kurz vor Ende der Partie mit 1-0, doch Bomber Ardemagni drehte das Match mit einem Doppelschlag für die gelb-blauen Modenesen. Auch gegen Padua, das sich schon jenseits von Gut und Böse in der Tabelle befand, gelang nur ein dürftiges 1-1 und beim tapfer kämpfenden Abstiegskandidaten Lanciano kam Sassuolo nicht über ein 2-2 Remis heraus. Nun flatterten die Nerven, zumal zum letzten Heimspiel der direkte Konkurrent aus Livorno anreiste. Viele Gebete wurden gesprochen, der 18.Mai 2013 rückte näher. Und das Schicksal wollte es , dass Patron Giorgio Squinzi, dessen Wort als Chef der Confindustria (italienischer Arbeitgeberverband) in Italien viel Gewicht hat, an diesem Tag seinen 70. Geburtstag feierte ... Und jaaa, es gab das richtige Geschenk : Nach einem Kampf auf Biegen und Brechen zog Missiroli in der nachspielzeit alle register seines Könnens und schloß einen Alleingang zum frenetisch gefeierten Siegtreffer ab ! wenig später ertönte der Schlußpfiff : Die Unione Sportiva Sassuolo zieht als kleinste jemals in der obersten Liga vertretenen Stadt in die Serie A ein. Und der bekennende Milan-Fan Squinzi wünscht sich nichts sehnlicher als ein 1-0 seiner Jungs bei Inter im Mailänder San Siro. In welchem Stadion Sassuolo seine Heimspiele bestreiten wird, darüber diskutieren die Edeltifosi jetzt in der Bar Luana, die direkt am altehrwürdigen Stadio Ricci von Sassuolo liegt. Es sieht danach aus, dass man in das moderne Giglio von Reggio Emilia umzieht. Die Heimat von Reggiana beherbergt momentan nur einen Drittligisten, hat aber das erste Einkaufszentrum in einem italienischen Stadionkomplex zu bieten. Für die Sassolesi wäre die schönste Nachricht wohl, dass sich ihr Patron erbarmt und in Sassuolo ein Stadion baut, aber diese Pläne scheinen in der untersten Schublade verschwunden zu sein.
Der Autor mit Capitano Magnanelli.
Infoblock:
 Sassuolo - Provinz Modena - Autobahnausfahrt an der A1 (Mailand-Bologna) Modena Nord ... danach ca.20 km auf einer vierspurigen Staatsstraße Richtung Zentrum

Sehenswürdigkeiten : Dom und Piazza Garibaldi jeweils im Stadtzentrum, Ferrari-Museum in Maranello (7 km entfernt)

Stadion Enzo Ricci und Sitz US Sassuolo : Piazza Risorgimento 47, www.sassuolocalcio.it

Treffpunkte der TIFOSI, Bar Luana am Stadion, Piazza Risorgimento 31 und Sunrise Cafe, Piazza Liberta 1  

Tourist-Information : Via Felice Cavallotti 79, www.visitsassuolo.it

Übernachtungsmöglichkeiten : Hotel Michelangelo,Via Circonvallazione Nord/Est 85, www.michelangelohp.com und Hotel Leon d´Oro, Circonvallazione Nord Est 195, www.hotel-leondoro.it

Kurioses : Wie die Unione Sportivo Sassuolo zwischen zwei Stadien in Reggio und Modena pendelt , so ähnlich verhält es sich mit den Bahnhöfen in Sassuolo : Es gibt zwei Bahnhöfe in Sassuolo - einer führt Richtung Reggio Emilia, der andere bringt die Zugreisenden nach Modena
Neuer Erstligabahnhof


Freitag, 14. Juni 2013

Ungewöhnliche Klubs: 1. FC Lola


Lola. 1. FC Lola. Ein ungewöhnlicher Name für einen ungewöhnlichen Klub. Und einen zudem höchst erfolgreichen Klub. Wie Franka Polente in „Lola rennt“, eilten auch die Schwarz-Roten Lolas in den frühen 1950er Jahren von Erfolg zu Erfolg. 1954 mit einem 2:0 im Entscheidungsspiel über den TSV Kappeln in die Landesliga Schleswig-Holstein aufgestiegen, schlug sich der 1. FC Lola auch unter Größen wie VfB Lübeck und Itzehoer SV erfolgreich und sicherte sich am 27. März 1955 mit einem 3:0 über Eckernförde endgültig den Klassenerhalt. Damit stand fest: Lola durfte auch 1955/56 wieder im schleswig-holsteinischen Fußballoberhaus dem Ball hinterrennen!
Der 1. FC Lola war ein Klub, wie es ihn nur in den turbulenten Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geben konnte. „Lola“ stand als Kürzel für „Lockstedter Lager“, und das wiederum war ein in preußische Tage zurückreichender Truppenübungsplatz mitsamt Wohngemeinde, der zwischen Kellinghusen und Itzehoe lag. Seit 1956 heißt das Areal Hohenlockstedt und ist heute eine gemütliche Kleinstadt.
Einst mit bis zu 18.000 Soldaten bevölkert, diente das Lockstedter Lager nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangenentlassungslager. Aus allen Himmelsrichtungen strömten vor allem aus den Ostgebieten stammende Soldaten seinerzeit in die Steinburger Heide und warteten darauf, im „Westen“ eine neue Heimat suchen zu können.
Für den Fußball im Lockstedter Lager war das ein Glücksfall, denn unter den Soldaten befand sich ein Vielzahl begabter Kicker. Einer, der das damit einhergehende Potenzial früh erkannte, war Arthur Scholle. Der ehrgeizige Seifenfabrikant hatte schon 1927 im örtlichen TSV Lockstedter Lager eine Fußballabteilung ins Leben gerufen, die nun zum Höhenflug ansetze. Zuvor kam es allerdings zum Streit, denn als sich Scholle mit seiner Forderung nach der Verpflichtung eines hauptamtlichen Fußball-Lehrers gegenüber dem TSV-Vorstand nicht durchsetzen konnte, rief der Unternehmer mit dem 1. FC Lockstedter Lager (1. FC Lola) einen eigenständigen Fußballklub ins Leben.
Dessen Aufstieg in die höchste Amateurklasse von Schleswig-Holstein erlebte Scholler allerdings nicht mehr mit. Nachdem sein Seifenimperium nach der Währungsreform zusammengebrochen war, schied der als etwas exzentrisch geltende Unternehmer bereits 1949 aus „seinem“ 1. FC Lola aus.
Sein Nachfolger Erwin Semmler stellte derweil die Weichen für den Marsch nach oben. Es waren vor allem Spieler aus dem nunmehr polnischen Oberschlesien, die in Steinburg und beim 1. FC Lola eine neue Heimat fanden. Angeführt von Spielertrainer „Toni“ Hofmann sicherten sich die Rot-Schwarzen 1954 mit 50:10 Punkten und 138:50 Toren die Bezirksligameisterschaft, räumen im Aufstiegsspiel auch den TSV Kappeln aus dem Weg und fanden sich plötzlich auf einer Ebene mit Klubs wie dem VfB Lübeck, dem Heider SV und Nachbar Itzehoer SV wieder.
Die kleine Gemeinde stand Kopf, als Lola sein Auftaktspiel im Oberhaus mit 2:0 in Lägerdorf gewann und in der ersten Heimpartie einen von 700 Zuschauern gefeierten 1:0-Sieg über Holstein Bad Segeberg nachlegte. Vor allem auf dem gefürchteten Platz an der Finnischen Allee (Segebergs Trainer: „Ein Flachpassspiel war auf dem holprigen Boden unmöglich“) war Lola nur schwer bezwingen. Der Heider SV kam über ein 2:2 nicht hinaus, und Flensburg 08 fuhr mit 1:2 geschlagen nach Hause. Unvergessen auch das 3:3 in Itzehoe sowie das Gastspiel auf der Lübecker Lohmühle, das allerdings mit 1:4 verloren ging.
Doch Lola hatte keine Zukunft im hochklassigen Fußball. Das Kriegsgefangenenentlassungslager war eben nur eine Durchgangsstation für Menschen auf der Suche nach einer neuen Heimat. Die Fluktuation war dementsprechend groß. 1955/56 wurde der Klassenerhalt verfehlt, und in der zweithöchsten Amateurliga verhinderte lediglich die inzwischen angekurbelte Nachwuchsarbeit den weiteren Abstieg. 1968 aber verpasste der 1. FC Lola die zweigleisige Verbandsliga und schied aus den überregionalen Spielklassen aus.
Zurück blieb eine Legende. Die Legende eines ungewöhnlichen Klubs, der vor fast 60 Jahren Schleswig-Holsteins Fußballgrößen zum Zittern brachte.

Montag, 3. Juni 2013

Aufsteiger in die Serie A: AS Livorno

Zur Rückkehr der AS Livorno in der italienische Serie A ein Klubporträt aus meiner Feder, das 2012 in der Berliner "Fuwo" erschien.

AS Livorno
Es ist ein schwieriges Thema, es ist ein heikles Thema und es ein ewiges Thema: passen Sport und Politik zusammen? Eigentlich hat Politik im Stadion nichts zu suchen. Das ist weitestgehend Konsens. Doch im Sport tummeln sich nun mal Menschen – und die sind schließlich politisch.

Wie beim FC St. Pauli ist das Thema „Fußball und Politik“ auch beim italienischen Zweitligisten AS Livorno nicht als Frage formuliert sondern eine Selbstverständlichkeit. Während Livorno als eine der politischsten Städte Italiens gilt, betrachtet sich der AS Livorno offensiv als „politischer Fußballklub“. Oder zumindest tun dies die Fans des AS Livorno. Und sie sehen das auch völlig entspannt. Drehen den Spieß einfach um, wenn sie zum Thema Politik und Fußball gefragt werden. Verweisen auf AC-Mailand-Boss Silvio Berlusconi, der mit Fußball Wahlen gewonnen und seine rechtspopulistische Partei nach einem der populärsten Fußballanfeuerungsrufe Italiens benannt hat. Berlusconi ist Lieblingsfeind Livornos. Politisch ebenso wie sportlich. Wo Berlusconi für rechte Politik und rücksichtslosen Despotismus steht, gilt Livorno als stramm linksgerichtet und steht für solidarischen Kollektivgeist. Wo Berlusconi den von – Berlusconis! - Massenmedien flankierten yuppigen AC Mailand repräsentiert, dient der AS Livorno den Verbrämten und Zukurzgekommenen als aufregend schmuddeliges Bannerschild. Nein, in Livorno kann man Fußball nicht unabhängig von der Politik betrachten.

Um das zu verstehen, zunächst ein Blick auf die Geschichte Livornos. Eine hemdsärmlige Hafenstadt, die das weichwachsene Urlaubsflair der Toskana nur bedingt wiederspiegelt. Denn die Hafenstadt, von der aus die Mittelmeerinseln Sardinien und Korsika angesteuert werden, ist die Hochburg der Arbeiterbewegung in der Toskana. 1921 wurde hier die italienische KP gegründet. Im Kampf gegen Mussolinis Faschisten war Livorno Hochburg. Monatelange Streiks, Werftbesetzungen, Arbeiterkooperationen - Livorno hat es alles erlebt. Und selbst wenn die Arbeiterbewegung in der 150.000-Einwohner-Stadt wie überall längst Geschichte ist, die Werften brach liegen, die Feierabendsirenen verstummt sind und die Arbeitermassen sich nicht mehr über die Bars im Stadtzentrum ergießen – der Stolz der Arbeiterklasse lebt fort. In Livorno sagen sie, ihre Stadt sei neben Liverpool die einzige Europas, in der die Arbeiterkultur noch lebt.

Auf den Rängen des örtlichen Stadio Armano Picchi allemal. Und das sogar deutlich mehr als an der Liverpooler Anfield Road. Während dort emotionsleerer Premier-League-Fußball gereicht wird, gibt sich Livorno klassisch rustikal. Auf den Rängen singen sie provokativ die alte Widerstandshymne „Bella Ciao“ oder den Kommunistenschlager „Bandiera Rossa“. Denn der AS Livorno versteht sich selbstverständlich als fußballerischer Flügel der örtlichen Arbeiterkulturbewegung.

1915 gegründet, sind die „Amaranto“ („Bordeauxroten“) zwar chronisch titellos (größte Erfolge: Vizemeisterschaft 1920 und 1943), vermögen dies aber durch Verve und Leidenschaft wett zu machen. 1929 zu den Gründungsmitgliedern der Serie A zählend, hatten die Toskaner nach dem Zweiten Weltkrieg meist zwischen Serie C und Serie B gependelt, ehe sie 1983 in der Serie C2 gelandet waren und 1991 nach einem Finanzcrash ein Neustart in der sechsten Liga nötig wurde. Ein reinigender Prozess. Zwei Aufstieg in Folge führten die Amaranto zurück in die C2. 1997 gelang der Sprung in die C1 und 2001 erreichte man erstmals seit 29 Jahren wieder die zweithöchste Spielklasse Serie B.

Personifiziert wurden sowohl der Aufschwung als auch Livornos „Klassenkampfattitüde“ durch Mittelstürmer Cristiano Lucarelli. Ein Fußballer, der mit allen üblichen Attributen brach. Als Sohn eines Hafenarbeiters wuchs er in den Wohnsilos des schäbigen Stadtviertel Shangai im Norden Livornos auf. Dort, wo man wenig Geld hat und unendlich viel List zum Überleben braucht. Für einen kleinen Stadtteilverein kickend erwarb er bereits mit zwölf Jahren eine Dauerkarte für die Fankurve des AS Livorno. Später wurde er zum Fußball spielenden Ultrà und zum Vorzeigelinken. Ließ sich den fünfzackigen Stern auf den Unterarm tätowieren. In dessen Mitte: das Wappen des AS Livorno.

So ein Mann löst natürlich Kontroversen aus. Als Lucarelli 1996 bei einem U21-Länderspiel in Livorno ein Tor erzielte und anschließend provokativ vor der Ehrentribüne ein Che-Guevara-Unterhemd lüftete, flog er aus der Auswahlelf. Dennoch wurde Lucarelli anschließend in Bergamo, Valancia und Turin zum Star. Oder besser Anti-Star. Denn wann immer es ging, stand er in der Fankurve Livornos und gab den passionierten Ultrà. Stemmte nach einem Tor gerne mal die Kommunistenfaust in den Himmel. Nachdem Livorno in die Serie B aufgestiegen war, geschah das Unfassbare. Lucarelli kündigte seinen hochdotierten Vertrag beim AC Turin und unterschrieb in Livorno einen Kontrakt, dessen Erlöse vergleichsweise einer Armenspeisung glichen. Während sein Spielervermittler seinem Entsetzen in einem Buch Luft machte („Tenetevi il miliardo“, „Behaltet eure Millionen“) schoss Lucarelli die Amaranto in den Fußballhimmel. Erzielte 2003/04 in 41 Spielen 29 Treffer. Führte Livorno nach 55 Jahren in die höchste Spielklasse zurück. Italien Fußball-Establishment war entsetzt: In der Serie A kickte plötzlich eine linke Rebellenhochburg!

Und das toskanische Fußballmärchen ging weiter. Als einsamer Abstiegskandidat in die Saison gestartet, erreichten die Amaranto 2004/05 sensationell Platz neun und stellten mit Lucarelli den Torschützenkönig der Serie A. 2005/06 wurde der Höhepunkt erreicht. Durch die Punktabzüge anderer Klubs im Bestechungsskandal rückte Livorno auf Position sechs vor und qualifizierte sich für den UEFA-Cup. Die Gruppenphase überstehend, scheiterte man erst am späteren Finalisten Espanyol Barcelona. Lucarelli beglückte die Fans unterdessen, als ein lukratives Angebot von Zenit St. Petersburg ausschlug und kommentierte: „es gibt Fußballer, die sich für eine Milliarde einen Ferrari oder eine Yacht kaufen, ich kaufe mir dafür ein Livorno-Shirt – das ist alles.“

Wie beim FC St. Pauli dreht sich der Kult um Livorno vor allem um seine Fans. Und dient im vergleichsweise durchpolitisierten Fußball Italiens als ewiger Streitpunkt. In Livorno sagen sie, kein Klub im Lande sei so häufig von Stadionverboten betroffen wie der AS Livorno. Schimpfen sie über „politische Repressionen“, denn während die faschistischen Schlägerbanden in Rom unbehelligt blieben, würde in Livorno schon weggesperrt, wer nur einen Slogan gegen Berlusconi rufe. Vor allem die strikt antifaschistische Ultràgruppierung „Brigata Autonome Lovornesi“ („BAL“) stand unter Beobachtung, wurde von halb Italien als „kriminell“ klassifiziert, während Lucarelli stets mit der Nummer „99“ auflief, dem Gründungsjahr der BAL. Über deren Vielschichtigkeit staunte das Magazin „11 Freunde“ vor einiger Zeit: „Dicke Oberarme und aggressive Blicke. Nur Kleinigkeiten unterscheiden die BAL von normalen Stadionschlägern. Ibrahim ist eine solche Kleinigkeit .Er kommt aus Nigeria und hat vor vier Jahren in Italien Asyl beantragt. Mit drei Landsmännern steht er mitten in der Meute, um den Hals weiß-rote Schals .Wo sonst in Europa gehören schwarze Flüchtlinge zum harten Kern der Gemeinde der Ultras?“

Als Lucarelli Livorno 2007 nach einem Streit verließ, geriet das Idyll ins Wanken. Dem Abstieg aus der Serie A folgte zwar die sofortige Rückkehr, in der sich Livorno diesmal jedoch nicht halten konnte. Seitdem kommt man über Zweitligafußball nicht mehr hinaus. Lucarelli entsetzte derweil die Fans mit dem Bekenntnis, ausschließlich des Geldes wegen zum ukrainischen Klub Schachtjor Donezk gewechselt zu sein. Trotzig pfiffen sie ihren gefallenen Vorkämpfer aus, als er einige Zeit später, inzwischen zum FC Parma gewechselt, als Gastspieler in Livorno auflief. Und intonierten zugleich ihre stolzen Lieder, denn eins blieb und bleibt gewiss: in Livorno, da lebt der Widerstand!

AS Livorno
Gründungsdatum: 1915. Vereinsfarben. Rot-Weiß. Stadion: Stadio Armando Picchi (19.238 Plätze)
Internet: http://www.livornocalcio.it/

Spielklassen: Serie A: 1929-31, 1933-35, 1937-39, 1940-43, 1945-49, 2004-07, 2008/09
Größte Erfolge: Italienischer Vizemeister 1920, 1943, UEFA-Cup-Teilnehmer 2006

Fans: Die Ultrà-Gruppe Brigata Autonomo Livornesi (“BAL”) wurde 1999 gegründet und gilt als strikt antifaschistisch und kommunistisch. Vor allem in den Spielen gegen den als rechtsgerichtet angesehenen Hauptstadtklub Lazio Rom kam es immer wieder zu Ausschreitungen. Die Gruppe gilt seit einiger Zeit als aufgelöst. Nachfolger sind u.a. Vecchie Origini Livornesi 1915, Visitors und 1312.