So ein Aufstieg ist eine schöne Sache. Man spielt eine Klasse höher und rückt verstärkt in die allgemeine Wahrnehmung, bekommt neue Gegner zu sehen, kann in Stadien reisen, in denen man noch nie gewesen ist.Tolle Sache also, oder? Nicht nur! Denn wenn man von der 2. in die 1. Liga aufsteigt, dann landet man - zumindest in Frankreich - zudem mitten im "Modernen Fußball".
Genau das ist mir mit meinem französischen Liebling En Avant Guingamp passiert. Seit ich 1995 mein Fußballherz an den Klub aus der Nordbretagne verloren habe, bin ich mit den Guingampais dreimal abgestiegen (zweimal aus der 1. Liga, einmal aus der 2. Liga) und dreimal aufgestiegen (zweimal in die 1. Liga, einmal in die 2. Liga). Ich habe also schon einiges gesehen und auch mitgemacht.
Doch das war nix im Vergleich zu gestern, als ich nach neun Jahren in der zweiten bzw. dritten Liga mal wieder zu einem Guingamp-Spiel in der Ligue 1 gereist bin.
Ziel war Paris, Gegner ein Verein, der sich neu erfunden hat: Paris-Saint Germain. Neuer Sponsor, neues Outfit. Neues Logo, neuer
Slogan. Neue Spieler, neue Fans - PSG ist der neue Stern am französischen Fußballhimmel, wobei die Betonung auf "neu" liegt. In Paris ist in den letzten Jahren so ziemlich alles umgekrempelt worden. Ziel ist es, einen massenkompatiblen Hauptstadtverein zu schaffen, der das Zeug dazu hat, das "neue Fußballpublikum" in ganz Frankreich zu erreichen/begeistern.
Dabei ging man ebenso planungssicher wie rücksichtslos vor. So im Fall der beiden aufgelösten früheren Fangruppen
Boulogne Boys und
Auteuil. Zweifelsohne alles andere als pflegeleicht und zudem heftigst miteinander verfeindet. Das hatte nicht zuletzt soziale bzw. gesellschaftliche Hintergründe. Die
Boulogne Boys, bestehend zumeist aus Bewohnern der Stadt und der wohlhabenderen westlichen Vorstädte, galten als rechtsoffen bis rechtsextrem, die Besucher der Tribüne
Auteuil hingegen stammten überwiegend aus der eher schwierigen nördlichen und östlichen Banlieue und wiesen häufig einen Migrationshintergrund auf. Beide Gruppen fielen in der Vergangenheit wiederholt negativ auf, wobei vor allem die
Boulogne Boys mit Aktionen wie dem "Pädophilen"-Transparent beim Ligapokalendspiel gegen Lens 2008 Schlagzeilen machten.
Nach der Übernahme des Klubs durch die katarische Investorengruppe
Qatar Sport Investment (QSI) im Mai 2011 wurden vor der Saison 2011/12 sämtliche Fangruppen aufgelöst und die Karten im wahrsten Sinne des Wortes "neu gemischt". Jeder Dauerkarteninhaber aus den Kurven erhielt einen neuen Platz zugewiesen, womit die verbotenen Gruppen auch räumlich zerschlagen wurden. Es hagelte Stadionverbote, Frauen erhielten kostenlos Eintrittskarten, Jugendliche unter 16 zahlten nur den halben Preis. Kurzum: PSG schuf sich zwei neue Fankurven.
Für Guingamp und seine reiselustige Fanschar war das Duell in der Hauptstadt dennoch ein Leckerbissen. Vor kaum drei Jahren spielte man schließlich noch in Orten wie Luzenac, Plabennec und Alfortville - nun stand da auf dem Spielfeld des Parc des Princes plötzlich jemand wie Zlatan Ibrahimovic. Es war ein klassisches Duell David gegen Goliath. PSG mit einem (offiziell) 400 Mio-Euro-Etat - Guingamp mit vergleichsweise schmalbrüstigen 20 Mio. Euro. PSG mit der Attitüde eines leicht versnobten und arroganten Hauptstadtvereins - Guingamp wie das Meppen Frankreichs als Gummistiefelfraktion und mit dem Fangesang "Les paysans sont de retour" - "Die Bauern sind wieder da"
Im Internet kursierten sogar Bilder von einer Traktorenkolonne auf der Autobahn, die betitelt waren mit: "Paris am Samstag: Zone Rouge" (das steht in Frankreich für "Staugefahr"). Trecker wurden dann am Parc des Princes zwar keine gesichtet, dafür rollten drei Busse sowie zahlreiche Privat-PKW aus dem rund 500 Kilometer entfernten Guingamp an. Hinzu kamen Bretonen aus dem gesamten Pariser Umland sowie Exoten wie mich oder auch ein in Berlin lebender Bretone, der rasch mal für das Spiel nach Paris gejettet war. Am Ende war der Gästeblock mit 650 Leuten jedenfalls ziemlich gut gefüllt - vor allem, wenn man die Zahl in Relation zu den knapp 8.000 Einwohnern, die Guingamp hat, setzt.
So groß der Stolz der Guingampais war, wieder erstklassig zu sein, so groß war aber auch der Schock, was aus der Erstklassigkeit zumindest in Paris geworden war. Das Stadion - großräumig von Polizei abgesperrt. Nur mit gültiger Eintrittskarte kam man auch nur in die Nähe der Eingänge. Ich durfte einmal das gesamte Areal umrunden, ehe ich endlich den Zugang zum Gästeblock erreicht hatte, wo mich ein eindrucksvolles Ordnungshüteraufgebot empfing. Die Busreisenden berichteten unterdessen, dass sie ab Guingamp von einer Motorradeskorte der Polizei begleitet worden waren. Guingamp gewinnt übrigens regelmäßig den Preis des "fairsten Publikums in Frankreich", und ich mag mir nicht ausmalen wollen, wie Paris aussieht, wenn Erzrivale OM anollt.
Die nächste Überraschung beim Kartenkauf. Zum einen gab es Karten nur gegen Vorlage eines Ausweises, der grundsätzlich in einem bretonischen Departement ausgestellt sein musste (mit meinem deutschen Pass sorgte ich entsprechend für Verwirrung und kam nur rein, weil ich ein T-Shirt mit der Aufschrift Kop Rouge Allemagne trug...), zum anderen waren pro Nase 35 Euro fällig. Einheitspreis! In der 2. Liga hatte es die Billets für den Gästeblock in der Regel für fünf bis acht Euro gegeben. Nachdem wir alle zähneknirschend ein wenig zur Deckung des 140 Mio-Salär von Zlatan I. beigetragen und auch die intensiven Leibesvisitationen hinter uns gebracht hatten, die nächste Überraschung: Für 0,3 l Wasser im Plastikbecher waren stolze drei Euro hinzulegen (an Bier war natürlich gar nicht zu denken - auch nicht an Leichtbier). So langsam verfestigte sich der Eindruck, dass das alles wohl kein billiger Spass werden würde. Irgendwo muss so ein 400 Mio-Etat ja auch herkommen.
Der Gästeblock präsentierte als sich der in Frankreich übliche Hochsicherheitstrakt. Wer einmal drin ist, kommt so schnell nicht wieder raus. Immerhin war die Sicht recht gut, wenngleich die engen Sitzreihen bei allen nicht der Größennorm entsprehenden Besuchern für Probleme sorgten. Na, für 35 Euro kann man ja nicht auch noch Bequemlichkeit erwarten, oder? Stimmungsmäßig das übliche Aufwärmprogramm - knalllaute Musik aus der Dose, eine peinliche Animation durch das Klubmaskottchen und insgesamt ein Hype, der aus einem profanen Fußballspiel ein supertolles-und-niemals-zu-vergessendes "Event" macht. Dass wir in direkter Nachbarschaft zur Heimfan-Tribüne Boulogne standen, war übrigens kein Problem - außer den üblichen Pfiffen und Buhrufen sowie "Bauern"-Rufen war da nix zu hören.
Mit dem Anpfiff packten dann alle ihre offenbar am Stadioneingang verteilten
neuen PSG-Fähnchen aus und wedelten tüchtig damit rum. Der Oberring hatte rote Fahnen bekommen, der Unterring blaue. So kann man eine Choreografie natürlich
auch machen! Choreografie? Fahnen? Banner? Abgesehen von der verteilten
Werbefähnchen war diesbezüglich Fehlanzeige. Im ganzen Rund nichts zu sehen. Klinisch rein wirkte
der Parc des Princes. Gesäubert von all den „dreckigen“ Elementen, die der
Fußball AUCH so anzieht und die die Kurve so einzigartig macht.
In Paris nicht mehr. Da tummelt sich sowohl auf Haupt- und Gegengerade als
auch in den beiden Kurven etwas, das hierzulande wohl Theaterpublikum genannt
werden würde. Anfeuern? Kaum zu hören. Ab und an mal ein „Pari“, bei Freistößen
auch mal etwas rhythmisches Geklatsche, ansonsten aber hörte man nur die
spitzen Schreie, wenn „ER“ an den Ball kam. Ihr wisst schon, der mit dem
Zöpfchen, dessen Gehalt wir mit den jeweils 35 Euro pro Nase mitfinanziert hatten. Von
Fußballstimmung war nichts zu hören – außer natürlich im Gästeblock, wo man
freudig zur Kenntnis nahm, den Parc des Princes in Stimmung bringen zu können.
Nur ein „Ici, c’est Guingamp“ sorgte dann mal für Aufregung, Pfiffe und die
leicht wütende und von uns freudig beklatschte Antwort „Ici, c’est Paris“.
Irgendwie surreal. Ein Stadion ohne echte Fanblöcke, ohne destillierte
Stimmung, ohne diesen Kern, von dem aus die Atmosphäre verbreitet wird. Das
„neue“ Publikum wirkte unwissend, unentschlossen. Hier und da saßen sicher ein
paar Altfans, die wussten, wie es geht, doch um sie herum war das neue
Publikum, und das war ratlos. PSG hat seine Fans gekillt.
Der aus meinen Augen leider sehr unschöne Spielverlauf – das 1:0 für PSG
fiel in der zweiten Minute der Nachspielzeit, das 2:0 in der dritten – weckte die
lethargische Masse dann kurz auf. Plötzlich flatterten die Fahnen wieder,
dirigierte der Stadionsprecher den Chor der Fröhlichen. Altfans waren daran zu
erkennen, dass sie hämisch mit erhobenem Mittelfinger in die Gästekurve
winkten. Was ehrlich gesagt nach dem Spielverlauf und vor allem dem
Stimmungsverlauf
schwer zu ertragen war.
Der Rest war Schweigen. Während der Sieger grußlos in der
Kabine verschwand (auf den Rängen war aber auch niemand, der Zlatan und Co. zum Abklatschen aufforderte), durften sich die Gästefans in die Obhut der Gendamerie
begeben, die uns eine geschlagene Stunde „gefangen“ hielt, ehe wir
tröpfenweise das Gelände verlassen durften – natürlich begleitet von
bürgerkriegsmäßig bewaffneten „Streitkräften“, denen weiß Gott mehr als nur
Pfefferspray und Schlagstock zur Verfügung stand. Endlich draußen, begegnete
mir auf dem Weg zur Metro noch einmal der „neue“ PSG-Fan: urban, hip und
vermögend. Und dass ist das in meinen Augen wirklich schlimme an der Verwandlung
von PSG in P€G: es gibt genügend Leute, die das "Produkt" annehmen und dem ganzen Prozess
damit zum Erfolg verhelfen.
Das letzte Bild sei aus der Metrostation gesendet, als vor
mir in der Schlange am Ticketschalter eine US-amerikanische Familie, bestehend
aus Vater, Mutter und ca. siebenjährigem Sohn, allesamt in voller PSG-Montur, verzweifelt
versuchte, dem Ticketschalter ein Billet zu entlocken. Leider waren bei diesen
glühenden Pariser Fans keinerlei französische Sprachkenntnisse vorhanden. Nein – ich habe meine Hilfe nicht angeboten, sondern habe sie zappeln lassen.
Und nochmals nein: ich schäme mich nicht dafür!
Mir ist nach diesem „Erlebnis“ nicht mehr wohl mit dem
Fußball. Die Entwicklung bei Bayern München in den letzten Wochen, die
Ereignisse von Dortmund und Schalke, dann hier in Paris zu sehen, dass es
tatsächlich möglich ist, sein Publikum auszutauschen – allzu optimistisch, dass „holt Euch
das Spiel zurück“ noch einmal eine Renaissance erfahren wird, sollte man wohl
nicht sein. Allenfalls die „Kleinen“ geben Grund zu Zuversicht – Klubs wie der
SC Freiburg hierzulande oder En Avant Guingamp in Frankreich. Man darf gespannt sein, wie sich sich im „Modernen Fußball“ werden behaupten können.