Das Schweizer Fußball-Oberhaus kommt nicht zur Ruhe. Nach dem gewaltigen Punktabzug für den FC Sion aufgrund dessen von der FIFA nicht genehmigter Transfers und dem spektakulären Aus von Xamax Neuchâtel hat es nun mit Servette Genf den nächsten Klub erwischt: Die Granatroten müssen Insolvenz anmelden. Nicht zum ersten Mal, denn der erst in diesem Jahr Klub in die Erstklassigkeit aufgestiegene Klub war im Februar 2005 schon einmal aus wirtschaftlichen Gründen zusammengebrochen und hatte seinerzeit in der Drittklassigkeit einen Neustart unternehmen müssen.
Nun hat Genfs Präsident Majid Pishyar die Geschicke des derzeitigen Tabellenvierten erneut in die Hände eines Konkursrichters gelegt. In eine Erkärung heißt es: "Liebe Freunde, heute ist ein trauriger Tag für Genf. Wir haben in den letzten Wochen alles dafür gegeben, die Zukunft des Klubs zu sichern. Dennoch habe ich mich schweren Herzens entschieden, die Bilanz zu deponieren". Genf ist mit schätzungsweise zwei Mio. Euro verschuldet.
Weitere Infos: http://www.nzz.ch/nachrichten/sport/aktuell/sporttickerdepartment/urnnewsmlwwwsda-atsch20120301brz017_1.15366489.html
Nachstehend ein Klubporträt aus meiner Feder aus dem Jahr 2010
17 Mal Schweizer Meister. Nicht einmal in über 100 Jahren aus sportlichen Gründen abgestiegen. 2001 im UEFA-Cup bis ins Achtelfinale vorgedrungen – unter anderem mit einem 3:0 bei Hertha BSC.
Servette Genf ist ein stolzer Verein. Einer der stolzesten der Schweiz und zweifelsohne der Stolz der französischsprachigen Schweiz.
Oder muss man sagen, „war ein stolzer Verein“? Nach einem hollywoodreifen finanziellen Vabanquespiel brach Genfs Fußballwelt im Februar 2005 schlagartig in sich zusammen, und der 115-jährige Servette FC durfte sich glücklich schätzen, anschließend zumindest in der dritthöchsten Spielklasse weiterkicken zu dürfen und nicht gänzlich aus dem Vereinsregister gestrichen zu werden.
Seitdem leckt man in Genf seine Wunden. Und träumt davon, das jahrzehntelang geforderte und 2003 endlich eröffnete hochmoderne Stade de Genève mit Spitzenfußball zu beleben. Immerhin ging der kürzlich drohende GAU an den „Granats“ („Granatroten“) vorbei, als die UEFA dem erst 2007 gebildeten Retortenklub Évian Thonon-Gaillard FC aus dem französischen Nobelbad Évian-les-Bains untersagte, seine Heimspiele nach dem Aufstieg in die 2. Liga Frankreichs in Genf auszutragen. So einen Nachbarn vor der Nase zu haben, wäre für die leidgeprüfte Fangemeinde der „Granats“ nur schwer zu verdauen gewesen.
Genf ist eine der Wiegen des Fußballs in der Schweiz und damit in Mitteleuropa. 1890 von Oberschülern als Rugbyverein gegründet, errang der im Genfer Stadtteil Servette ansässige Klub schon 1907 seine erste von 17 Schweizer Fußballmeisterschaften. In den 1920er Jahren bildete Servette gemeinsam mit Grasshopper Zürich (GC) und Young Boys Bern (YB) die „großen Drei“ und stand synonym für Spitzenfußball in der französischsprachigen Westschweiz. Der damalige Trainer Teddy „Ducky“ Duckworth hatte mit modernen Kombinationsfußball die Weichen in Richtung Erfolg gestellt, und 1924 reiste die Schweiz gleich mit neun Servette-Spielern zum Olympischen Fußballturnier nach Paris, wo erst im Finale gegen Uruguay das Aus kam (0:3).
Vier Landesmeisterschaften holte Duckworth zwischen 1921 und 1930 nach Genf, ehe der Engländer vom Wiener Karl Rappan abgelöst wurde, unter dem Servette erneut zum Trendsetter im europäischen Fußball wurde. Rappan – das war der Erfinder der berühmten „Riegeltaktik“, also dem Vorläufer des gefürchteten Catenaccio. 1934 wurde Servette Genf unter Rappan Meister der neugegründeten Schweizer Nationalliga und zählte zu den renommiertesten Vereinen Mitteleuropas.
Starker Mann im Hintergrund war seinerzeit Charles Kellermüller, ein umtriebiger Versicherungsagent, der Spieler wie Mittelstürmer Raymond Passello ins 1930 eröffnete Stade des Charmilles geholt hatte. Dort hatte Kellermüller im selben Jahr zudem ein hochkarätig besetztes „Europaturnier“ ausgetragen lassen, das heute als einer der frühen Vorläufer des Europacups angesehen wird.
Kellermüller war seiner Zeit weit voraus und verwandelte Servette in einen modernen Wirtschaftsbetrieb, der es allerdings ein wenig an der finanziellen Kontrolle mangeln ließ. 1935 hatte der Schuldenberg die imposante Höhe von rund einer Viertelmillion Schweizer Franken erreicht, und während Rappan daraufhin zu den Zürcher Grasshopper wechselte, konnte Servette bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nur noch 1940 die Meisterschaft erringen.
Nach dem Krieg kam Rappan zurück und legte den Grundstein zu einer neuen Blütezeit. 1955 standen „les Granats“ in ihrem ersten Europapokalspiel ausgerechnet Real Madrid gegenüber (0:2 und 0:5), ehe unter Jean Snella ein Team um Flügelstürmer Jacques „Jacky“ Fatton entstand, das 1961 und 1962 jeweils den Landestitel errang. Mit insgesamt 272 Toren ist Fatton bis heute ewiger Torjäger der Schweizer Nationalliga NLA.
Doch die Musik im Schweizer Spitzenfußball spielte längst im deutschsprachigen Osten. Bern, Zürich und Basel waren die Hochburgen, in denen auch das Kapital saß. Servette wurde zu einem einsamen Stern in der NLA, und das französischsprachige „Welschland“ zur Spitzenfußball-Diaspora. Auch namhafte Transfers wie der von Ex-Bundesligaspieler Bernd Dörfel (1970-72) konnten das nicht ändern. 1979 gelang mit Hilfe von Torjäger Umberto Barberis noch der 14. Titelgewinn sowie der Einzug ins Viertelfinale des Pokalsiegerwettbewerbs (Aus gegen Fortuna Düsseldorf), ehe Präsident Roger Cohannier 1980 angesichts der kargen Kulissen und zögerlichen Rückendeckung der heimischen Wirtschaft frustriert die Brocken hinwarf und konstatierte: “Fußball rentiert in Genf nur dann, wenn wir an der französischen Meisterschaft teilnehmen können“.
Das Erfolgsteam, das 1978 und 1979 zudem jeweils Pokalsieger geworden war, zerbrach daraufhin, und als wenig später der Immobilienhändler Carlo Lavizarri und der Notar Didier Tornare die Führung über den Traditionsverein übernahmen, wurde es turbulent im Stade des Charmilles. 1984 ging erneut der Pokal und 1985 mit nur drei Saisonniederlagen sogar die 15. Meisterschaft nach Genf, ehe Servette plötzlich ohne erkennbares Konzept Altstars wie Karl-Heinz Rummenigge verpflichtete und dennoch nicht mehr über Mittelmaß hinaus kam. Schlimmer noch: als der Immobilienboom endete, waren auch noch die Klubkassen leer.
Erst unter Paul-Annick Weiller stabilisierte sich der Klub, und 1994 konnten „les granats“ erstmals seit neun Jahren wieder die Meistertrophäe in Empfang nehmen. Finanziell blieb die Lage jedoch schwierig, und immer wieder mussten Leistungsträger verkauft werden. So ging der Brasilianer Sonny Anderson nach der Meisterschaft 1994 zum AS Monaco, während der spätere deutsche Nationalspieler Oliver Neuville 1996 nach Mallorca wechselte.
Als im Januar 1997 der französische Privatsender Canal+ die Führung übernahm, sollte alles besser werden. Canal+ hatte zuvor den französischen Klub Paris St-Germain in ein Spitzenteam verwandelt und wollte dasselbe nun mit Servette Genf tun. Unter Trainer Gérard Castella entstand ein Team aus lauter Frankoschweizern, das 1998/99 tatsächlich den Durchbruch schaffte und zum 17. Mal den Titel des Schweizer Landesmeisters nach Genf holte.
Doch es war kein Erfolg von Dauer. Die Zuschauerzahlen im längst maroden Stade des Charmilles blieben übersichtlich, und obwohl sich eine engagierte Fanschar um den Klub scharte, fehlte Servette die Wirtschaftskraft. 2001 führte Lucien Favre „les granats“ u.a. über Hertha BSC noch bis ins Achtelfinale des UEFA-Cups, ehe Canal+ den Verein im Folgejahr auf UEFA-Anordnung verkaufen musste, da der Besitz von zwei Klubs nicht mehr erlaubt war und Canal+ an PSG festhalten wollte.
Zur selben Zeit tobte ein kommunales Tohuwabohu um den Bau des Stade de Genève, das schließlich 2003 eröffnet wurde. Servette galt fortan als „Schlafener Riese“ in einem auch wirtschaftlich interessanten attraktiven Großraum, zumal Servettes traditionelle Konkurrenz in der französischsprachigen Romandie (Xamax Neuchâtel und Lausanne) längst den Anschluss verpasst hatte. Kurzum: der Klub schien das Potenzial zur Führungskraft zu haben.
Im Februar 2004 kam Marc Roger nach Genf. Ein umtriebiger französischer Spieleragent mit „Kontakten“, der als „eigenwillig“ beschrieben wurde. Er hatte Großes vor mit Servette Genf und dem hochmodernen Stadion, das wie geschaffen schien, Genf in einen Nabel des zentraleuropäischen Spitzenfußballs zu verwandeln. Spieler aus elf Nationen wurden angeheuert – darunter der französische Weltmeister Christian Karembeu sowie der Rumäne Viorel Moldovan -, und das Ziel lautete Champions League – für einen Schweizer Klub traditionell ein hohes Ziel.
Ein Jahr später verlor Servette Genf zum ersten Mal in seiner Geschichte den Erstligastatus. Alles war fürchterlich schief gegangen. In einem abenteuerlichen Finanzgeflecht waren Schulden in Höhe von über elf Millionen Franken entstanden, woraufhin der Nationalverband im Februar 2005 die Rote Karte gezogen hatte. Während Roger sich fluchtartig nach Frankreich absetzte und nach seiner Rückkehr inhaftiert sowie 2008 auch verurteilt wurde, musste Servette 2005/06 den Platz seiner Reserve in der 3. Liga einnehmen.
Schon im ersten Anlauf gelang unter beachtlichem Zuschauerinteresse der Aufstieg in die 2. Liga, der Servette bislang jedoch nicht hat entkommen können. 2009/10 erreichte man nach einer starken Rückrunde immerhin Platz vier und begrüßte im Romandie-Derby gegen Lausanne-Sports annähernd 10.000 Zuschauer, was für die Schweiz eine beachtliche Kulisse darstellt. Seit 2008 lenkt der iranische Geschäftsmann Majid Pishyar (Manager des weltweit operierenden Firmen-Konglomerats „32gropup“) den Klub und strebt nach der raschen Rückkehr in die inzwischen Super League genannte höchste Spielklasse der Schweiz. Denn eins ist klar: Servette ist noch immer ein „Schlafender Riese“, der mit seinem modernen Stadion und dem gewaltigen Einzugsgebiet eigentlich nur noch erweckt werden muss.
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