Montag, 12. November 2012

Vergessene Traditionsvereine: Bremerhaven 93

Über Jahrzehnte war Bremerhaven 93 eine etablierte Adresse im norddeutschen Fußball. Die Weinroten aus der Hafenstadt mischten sowohl in der Oberliga als auch in der Regionalliga in der norddeutschen Spitze mit. 1977 verschwanden sie für immer von der Bildfläche. Ein Nachruf.

Seit dem 1. Juli 1977 ist Bremerhavens einstiger Fußballstolz Geschichte. Seinerzeit übernahm der fünf Jahre zuvor gebildete Großverein OSC Bremerhaven die Tradition (und die Schulden…) der Weinroten, deren Aufschwung und Niedergang dem der Hafenstadt an der Wesermündung glich.

1893 als Arbeiterturnverein gegründet, eröffnete Bremerhaven 93 kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Fußballsektion, die nach dem Krieg ad hoc zur Vorzeigeabteilung bei den Weinroten wurde. Allerdings im vom DFB unabhängigen Arbeitersport, wo die Nordlichter rasch zu den stärksten Teams im gesamten Reichsgebiet aufstiegen. 1921 und 1923 erreichten sie jeweils das Halbfinale der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft und verpassten nur knapp das Endspiel. 1926 eröffnete der engagierte Klub zudem im ehemaligen Zollinlandshafen eine neue Spielstätte, die rasch den Kosename „Zolli“ erhielt und zum Zentrum des Bremerhavener Spitzenfußballs wurde.

Die proletarischen 93er hatten dort über Jahre friedlich Seite an Seite mit den im DFB-Spielbetrieb integrierten Stadtrivalen Sparta und ATS Bremerhaven um Punkte gerungen, als der Arbeitersport 1933 unter den Nationalsozialisten zerschlagen wurde. Von dem Verbot war auch der ATV 93 betroffen. Doch weil Bremerhaven 93 eine hohe Bedeutung im Fußball der Hafenstadt genoss und zudem schichtenübergreifend in der ganzen Stadt beliebt war, durfte der Klub als TuS 93 übergangslos im bürgerlichen Lager weiterkicken. 1942 erreichten die Weinroten die Gauliga und waren damit erneut führendes Team vor Ort.

Nach dem Zweiten Weltkrieg boomte die 1947 durch den Zusammenschluss von Wesermünde, Lehe und Bremerhaven gebildete Stadt Bremerhaven, die zum größten deutschen Passagierhafen Deutschlands aufstieg. Auch auf dem „Zolli“ war seinerzeit ordentlich was los. Als den 93ern 1948 der Aufstieg in die Oberliga gelang, wurde Bremerhaven über Nacht zur brodelnden Fußballhochburg. Ihren Zenit erreichten die vom ehemaligen Nürnberger Robert „Zapf“ Gebhardt trainierten Weinroten um Kapitän Kapteina 1954/55, als sie hinter dem ewigen Nordmeister Hamburger SV Zweiter wurden und sich für die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft qualifizierten. Weil der altehrwürdige „Zolli“ zu klein für derlei Spektakel war, musste 93 allerdings ins Bremer Weserstadion ausweichen, wo man Worms und Offenbach besiegte, während es gegen den späteren Finalisten Rot-Weiss Essen immerhin ein Unentschieden gab.

Der Höhepunkt markierte zugleich den Beginn einer schleichenden und schier unendlichen Talfahrt. Problem Nummer 1 war das beschauliche Zollinlandstadion, das in Zeiten des anbrechenden Profitums zu wenige Einnahmemöglichkeit bot. Damit verbunden Problem Nummer 2: Finanzsorgen. Die prägten fortan die Geschicke eines Klubs, der unter dem wirtschaftlichen Niedergang der Stadt Bremerhaven litt und immer wieder Leistungsträger verlor. 1959 verließ Erfolgstrainer Gebhardt den Verein, aus dem spätere Bundesligaasse wie Uwe Klimaschefski, Willi Reimann und Egon Coordes hervorgingen.

1963 mit der Bundesligagründung in die Zweitklassigkeit abgerutscht, konnten die Weinroten nur durch den regelmäßigen Verkauf von Leistungsträgern überleben. Der Publikumszuspruch in der wirtschaftlich inzwischen danieder liegenden Hafenstadt ging kontinuierlich zurück, so dass Schmalhans bald ungeliebter Küchenmeister war. Zudem bereitete der entwürdigende Zustand des „Zolli“ Sorge. Seitdem die Haupttribüne Anfang der 1970er Jahre einer Straßenverbreitungsmaßnahme zum Opfer gefallen war, verfügte das Areal nur noch über drei Seiten mit heruntergekommenen Stehtraversen und keinerlei überdachten Sitzplätzen.

Bis zur Auflösung der Regionalliga Nord 1974 hielt sich Bremerhaven 93 dennoch in der zweithöchsten Spielklasse, ehe Platz 14 im Spieljahr 1973/74 nicht zur Qualifikation für die neue 2. Bundesliga-Nord reichte und Bremerhaven 93 erstmals in die Drittklassigkeit musste. Zu jenem Zeitpunkt war das Aus des Traditionsvereins bereits besiegelt. Ein hoher Schuldenberg und das moderne Nordseestadion sorgten für die Bildung des Großvereins OSC Bremerhaven, der in die Fußstapfen der 93er trat. Bis 1977 geschah dies aus formalen Gründen noch unter dem Namen „93“, ehe der Traditionsklub mit dem Gewinn der Nordmeisterschaft und dem Aufstieg in die 2. Bundesliga am 1. Juli 1977 endgültig Geschichte wurde.

Die Erfolgsära des OSC währte nur kurz, und der anschließende Absturz des Klubs, der emotional nie die Rolle der 93er einnehmen konnte, war brutal. 1985 verschwand der Klub auf Landesebene und kehrte nie zurück. Das Nordseestadion, mit seinen weitläufigen Leichtathletikanlagen nie geliebt, verwaiste, und auf dem „Zolli“ ließ sich der in FC Bremerhaven umbenannte VfB Lehe nieder, der kürzlich nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit aus dem Vereinsregister gestrichen wurde. Der Mythos von Bremerhaven 93 waberte bis heute durch Hafenstadt. „93 war ein Markenzeichen, ein Begriff, den man nicht hätte aufgeben sollen“, konstatierte Ex-Erfolgstrainer Helmut Johannsen schon 1980, nachdem der OSC auch im zweiten Anlauf, sich in der 2. Bundesliga zu etablieren, gescheitert war.
 
Dieser Artikel erschien im August 2012 im Rahmen meiner wöchentlichen Kolumne in "Nordsport" 

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