Neulich bin ich in den Harz geradelt. Ich muss ja ordentlich trainieren für
meine kleine Südamerikatour, die am 1. August losgeht. Und die Harzberge sind
als Vorbereitung auf die Anden natürlich perfekt.
Das Schöne am Bergradeln ist, dass man da so herrlich abtauchen kann.
Während der Körper schuftet, kann der Geist mäandrieren. Und während
ich gemütlich den Sonnenberg bei St. Andreasberg hochächzte, kam mir die
Frage in den Sinn, ob ich wohl alle 32 teilnehmenden Länder der
Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien würde aufzählen können. Ich konnte
es nicht. Und mir fehlten nicht etwa zwei/drei Exoten wie Honduras oder Costa
Rica, mir fehlten etliche „richtige“ Länder! Ich war durchaus ein bisschen
überrascht, denn das letzte Mal, dass ich eine Woche vor einem WM-Start nicht
sämtliche Teilnehmer quasi im Schlaf aufsagen konnte, war 1970 gewesen. Da war
ich Sieben und hatte Probleme, Gastgeberland Mexiko überhaupt auf der Weltkarte
zu finden.
Heute Abend sitze auch ich natürlich vor dem Fernseher, wenn Brasilien gegen
Kroatien spielt (übrigens eines der Länder, das mir nicht einfiel). Doch von
der Aufregung, die mich vor früheren Weltmeisterschaften meistens schon Wochen
vorher ergriff, ist nichts zu spüren. Die Namen der Stadien in Brasilien? Der
komplette Spielplan? Die verschiedenen Szenarien, wie Viert- und Halbfinale
aussehen könnten? Mannschaftskapitäne und Topspieler der beteiligten Nationen? Design
der Trikots, Reisewege der Teams? Dinge, die ich normalerweise vor jedem
WM-Turnier regelrecht verschlungen habe, gingen diesmal ziemlich an mir vorbei.
Dass ich den deutschen Kader nicht komplett zusammenbekomme, ist natürlich Jogi
Löw und seiner Personalpolitik zu verdanken, die spätestens ab Montag in der
allgemeinen Kritik stehen wird. Doch dass ich so unvorbereitet wie seit 40 Jahren nicht
mehr in ein WM-Turnier gehe, dafür kann ich niemand anderen verantwortlich
machen als ... mich.
Es hat mich einfach nicht interessiert.
Das macht mich traurig, denn eigentlich liebe ich den Fußball. Und vor allem
die Emotionen um das Spiel. Gerade bei Weltmeisterschaften, wo man früher immer
auch so schöne mediale Eindrücke von den Gastgeberländern und den Fans aus
aller Welt bekam. Sozial- und Gesellschaftsgeografie zum Anfassen. Häufig zwar naiv
einfach und auch erschreckend verzerrt, aber immerhin Eindrücke. Und nicht diese
inszenierten Showelemente, wie wir sie von heute an einen Monat lang in den
Spielpausen zu sehen bekommen werden. „Präsentiert von Firma xyz“ oder "powered by xxx".
Heute Abend werde ich erstmals in der WM-Geschichte vor dem Fernseher sitzen
und nicht wissen, wie ich mich fühle. Immerhin - das weiß ich schon! Denn einerseits
wird mich diese Fußball-Dauerschleife WM zweifelsohne rasch aufsaugen, wird der
Spielplan meinen Lebensrhythmus bestimmen. Andererseits wird mich die Distanz,
die ich ob des insgesamt beklagenswerten Zustandes des Fußballs zum Fußball
entwickelt habe, alles wie durch einen kritischen Nebelschleier wahrnehmen
lassen. Gefiltertes Fußballfieber.
Warum ich dem Fußball entrückter bin als jemals zuvor, muss ich an dieser
Stelle sicher nicht ausführen. Immer mehr von uns Fans spüren ähnlich. Kommerz,
FIFA, Katar, Blatter, Korruption, Brasilien, Geldverschwendung, VIPs, Weiße
Stadionriesen, Fußball-Millionäre, von der Basis entrückte Funktionäre,
Sperrgebiete um die Stadien, Militär für Promis – es gibt zig Stichpunkte, die
sich zu einem großen Fragezeichen verknüpfen. Nicht nur bei mir. Sondern bei
vielen von uns. So auch Reviersport-Legende Uli Homann (
http://www.reviersport.de/276796---wm-kommentar-grob-getarnte-mafia.html). Und deshalb weiß ich, dass es vielen von Euch heute ähnlich
gehen wird. Dass der Fußballfan in Euch mit einem sarkastischen Zyniker
in Euch streiten muss, dass das Selbstbefinden zwischen „gelassener Kritiker“ und „genervter
Miesepeter“ schwanken wird. Letzterer bleibt mir hoffentlich weitestgehend erspart.
Denn die WM ist es nicht wert, auch noch miesepetrig durch die Welt zu
laufen.
Als halbwegs kritisch denkender Zeitgenosse darf man diesem absurden
Spektakel eigentlich gar nicht folgen. Es ist neben all der bekannten Kritik (s.o.) schließlich auch kaum noch authentisch. Und für eine kommerzgespickte Inszenierung ist (mir) die Lebenszeit
dann doch zu wertvoll. Und doch lockt uns die Lust auf Fußball vor die Bildschirme.
Denn der Fußball selber hat ja nichts eingebüßt! Im Gegenteil: neben der
Spannung und, bei einer WM, der Chance, mit irgendeiner exotischen Mannschaften
fiebern zu können, nur weil einem ein Spielername gefällt, ein Akteur eine
außergewöhnliche Frisur trägt oder die Fans bombig sind, sind Fußballspiele gegenwärtig ja vom
ästhetischen Standpunkt betrachtet zumeist ausgesprochen anschaulich. Das war
1982 oder 1990 noch deutlich anders - damals konnte man das Gekicke ja
teilweise kaum ertragen.
Und doch ist mir Fußball entrückt, bin ich dem Fußball entrückt. Gestern
Abend lief auf ZDF eine formidable Dokumentation, die sich mit dem
Amateurfußball beschäftigte (
http://www.zdf.de/ZDFmediathek#/beitrag/video/2169666/ZDFzoom:-Unsere-Amateure-%E2%80%93-echte-Profis). Dass die Schere dort existenzbedrohend auseinandergeht, spürt man allerorten – im ZDF-Beispiel waren es der SC
Schaffrath und der FC Elmshorn. "In zehn Jahren gibt es viele Vereine wie uns nicht mehr", sagte der Vorsitzende des SC Schaffrath. Das ist zweifelsohne zu befürchten. Die zur Thematik interviewten Verbandsvertreter flüchteten sich derweil in Allgemeinplätze.
Zuvor hatte ich in der Folge „Englische Fans im
Abseits“ aus der Reportagereihe „Verrückt nach Fußball“ noch einmal sehen
können, wie dramatisch die Entwicklung in der englischen Premier League
eigentlich verlaufen ist. Und was das für Konsequenzen aufgeworfen hat (
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1835192/Verrueckt-nach-Fussball-%25283%2529#/beitrag/video/1835192/Verrueckt-nach-Fussball-(3). Es war ein nachdenklicher Abend voller Wehmut und auch Furcht. Denn ein Leben ohne Fußball? Ohne Fan-sein? Unvorstellbar und vor allem schlicht und einfach nicht gewollt. Dafür ist das körperliche und emotionale Erlebnis "Fansein" viel zu umfassend und ganzheitlich, als dass ich darauf verzichten möchte. Da kann ich noch so viele Alpen- oder Andenpässen hochfahren, die Freude/der Schmerz, den ein eigenes Tor/ein Gegentor in der 91 Minute auslöst, ist einzigartig. Wer Meditationserfahrungen hat, weiß, wie herausfordernd es ist, einfach in der "Gegenwart" zu sein. Wer als Fan ins Stadion geht, der ist "einfach in der Gegenwart", blendet alles andere aus, sieht nur den Ball, seine eigene Mannschaft, die Hoffnung und die Angst. Was für ein großartiges Geschenk!
„Holt Euch das Spiel zurück“? Es wäre dringend nötig. Aber wenn wir ehrlich
sind, illusorisch. "Unser" Fußball ist Geschichte. Da könnte ich genauso die Wiederbelebung der Originalbesetzung von "Marillion" (mit Fish!) fordern, einer Band, die mir einst sehr viel bedeutete und die mir heute völlig gleichgültig ist. Nichts bleibt stehen, und wer stehen bleibt, an dem fährt das Leben vorbei. Wobei zudem die Frage im Raum steht, wem das Spiel
eigentlich gehört bzw. gehörte. Uns Fans ganz sicher. Aber ganz sicher eben auch nicht
nur uns Fans. Fußball und Kommerz gingen früh eine innige Verbindung ein. Und
auch in den 1970er und 1980er Jahren waren Weltmeisterschaften schon geprägt von
irrwitzigem Kommerz, übelster Korruption und unter den Teppich gekehrten Verbandsskandalen. Damals hieß der Blatter
übrigens Havelange.
Was hat sich geändert seitdem? Die Ebenen, die Dimensionen. Die WM 1982 ist
für mich einer der tristen Tiefpunkte der WM-Historie. Da stimmte fast nichts.
Bis hin zum zynischen Weltmeister Italien, der sich durch die Vorrunde quälte
und im Finale auf ein deutsches Team traf, das sich wenig Meriten erworben
hatte. Und doch war die WM vergleichsweise ein "Nischenprodukt", ließ Fußball nicht gleich das ganze Leben, das ganze Universum stillstehen. Claudio Catuogno schreibt heute in der "Süddeutschen" in seinem Kommentar: "Der Fußball ist so abartig groß geworden, dass alle an ihm zerren".
2014 bietet eigentlich alle Möglichkeiten, denn mit Brasilien steht ein perfektes
Gastgeberland bereit. Doch die Dimensionen, die der „große“ Fußball
inzwischen eingenommen hat und in denen er durchgestylt ist, nehmen dem Turnier jede Würde, jede
Spontanität, jede Fröhlichkeit. Spannend dürfte es werden, sollte Brasilien vorzeitig aus
dem Turnier ausscheiden. Man wünscht es der FIFA, man fürchtet es für die Brasilianer. Denn dass es dann, wie 2010 in Südafrika, trotzdem fröhlich
und leidenschaftlich weitergeht, ist nicht zu erwarten. 2010 war Afrika als
Kontinent stolz, endlich eine WM ausrichten zu dürfen. 2014 gastiert das
Turnier in einem Land, das keine WM braucht, um stolz auf sich und seinen
Fußball zu sein. Und ein Land, das zornig ist und dessen Zorn mit dem Fußball unter dem Deckel gehalten werden soll.
Blatter und Co. haben zweifelsohne längst überzogen. Catuogno schreibt: "Der Fußball gehört allen, das macht ihn so mächtig, aber bei dieser WM eint er nicht, sondern er trennt". Doch auch für Blatter und Co gilt: wer stehen bleibt, den überholt das Leben. Insofern hat 2014 das Zeug zu einer Wendemarke im Fußball.
Also doch „holt Euch das Spiel zurück“? Ja verdammt, denn es ist doch schließlich ohnehin immer noch unser Spiel! Ohne uns verreckt
die Kommerz- und Korruptionsmaschine zwangsläufig. Und außerdem ist Fußball doch viel mehr als
das, was man uns in den nächsten vier Wochen vorsetzen/vorgaukeln wird. In Hamburg
haben einige HSV-Fans nach der Ausgliederung mit dem HFC
Falke einen neuen Verein gegründet. Vorbild England, Vorbild FC United of
Manchester. Auch das ist Fußball. Denn der Fußball, das sind wir!
Holt Euch das Spiel zurück! Und genießt den Fußball bei der WM!