Mittwoch, 22. Februar 2012

Kultklubs in Europa: Viktoria Zizkov

Aus der "FUWO"-Serie "Kleine Kultvereine" heute mal was aus Prag.
Wer Viktoria Žižkov sehen will, muss früh aufstehen. Egal, in der welcher Spielklasse sich die Rot-Weißen auch tummeln: Heimspiele beginnen stets am Sonntagmorgen um viertel nach Zehn. Bei dem anstrengenden Wochenendangebot, das die Goldene Stadt Touristen wie Einheimischen offeriert, kann das dazu führen, dass die Nachtruhe schmerzhaft kurz ausfällt - oder gleich komplett entfällt.

Ein entsprechendes Publikum versammelt sich im altehrwürdigen Viktoria-Stadion im dritten Prager Stadtquartier Žižkov. Vor dem Bierstand schwanken ein paar unverwüstliche Nachtschwärmer beim letzten Absackerbier. In der Ostkurve lehnen vom harten Leben und regelmäßigem Alkoholgenuss gezeichnete Arbeiter an rauen Wellenbrechern. Mitten drin tummeln sich alternativ angehauchte Studenten sowie Sinti und Roma, die im unmittelbaren Stadionumfeld zu Hause sind. Der klassische Prager Fußballfan – Alter irgendwo jenseits der 45, verwunschenes Gesicht mit mindestens graustoppeligem Dreitagebart und enzyklopädischem Wissen über alles und alle im Prager Fußballer der letzten Jahrhunderte - darf natürlich nicht fehlen. Kaum ein Ort in Prag versammelt ein derart buntes Publikum, wie Viktoria Žižkov.

Der Klub entwickelte seinen Ruhm als Kultverein schon früh. 1903 gegründet von ein paar Studenten war Viktoria Žižkov bereits in den 1920er Jahren unter den führenden Profiklubs der damaligen Tschechoslowakei zu finden. 1928 sicherten sich die Rot-Weißen zum bislang einzigen Mal in ihrer Geschichte den Titel des Landesmeisters. In der Zwischenkriegszeit finden sich auch die Wurzeln zum „Viktorianka Kult“. 1931 tauchte die auf einem Roman von Karel Poláček basierende Fußballkomödie „Muži v offsidu“ („Männer im Abseits“) in den Kinos auf, die sich um das Leben der damaligen Fans von Viktoria Žižkov dreht und heute einzigartiges Filmmaterial über jene Zeit liefert. Mit Vlasta Burian hatte vor dem Ersten Weltkrieg zudem ein in den 1920er Jahren äußerst beliebter Filmschauspieler das Viktoria-Jersey getragen.

Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs verschwand die bürgerliche Viktoria aus der höchsten Liga und versank anschließend im unterklassigen Fußball. Das kommunistische Regime präferierte staatstragendere Kollektive und kümmerte sich nicht um die ruhmreiche Vergangenheit des Klubs mit intellektuellem Background. 1952 wurde Viktoria in einer unfreiwilligen Fusion mit Avia Čakovice zu Slavoj Žižkov und konnte erst 1965 ihren Traditionsnamen wieder annehmen. Was erstaunlich war, stammte dieser doch aus dem Englischen! Sportlich pendelten die Rot-Weißen anschließend zwischen zweiter und vierter Liga und verpassten 1967 nur knapp die Rückkehr in die höchste Klasse.

Erst nach dem Prager Frühling kehrte Viktoria Žižkov auf die Landkarte der großen Prager Mannschaften zurück. Steigbügelhalter war Multimillionär Vratislav Čekan, der seine geliebte „Viktorka“ höchstselbst zum Leben erweckte. Čekan erwarb das Stadion von der Bezirksverwaltung und besorgte im Schulterschluss mit dem Zweitligisten JZD Slušovice, der 1992 Konkurs ging, eine Spiellizenz für die zweithöchste Liga. Damit am Grünen Tisch in die Zweitklassigkeit zurückgekehrt, marschierten die Rot-Weißen 1992/93 prompt ins Oberhaus durch und waren nach 45 Jahren endlich wieder erstklassig.

Als 1994 mit einem Elfmeterschießensieg über Sparta Prag der Pokalsieg gelang (im Halbfinale hatte man bereits Slavia ausgeschaltet), betraten die Rot-Weißen um Nationalspieler Karel Poborský sogar die europäische Bühne. Zunächst den IFK Norrköping ausschaltend trafen sie in der zweiten Runde auf den Chelsea FC - allerdings im vor-Abramowitsch-Zustand. Das Viktoria-Stadion an der Seifertova třída musste dennoch passen, denn die UEFA erlaubte die Austragung in der 8.000-Plätze-, sorry, Bruchbude nicht. 5.176 Zuschauer sahen in Jablonec nad Nisou ein respektables 0:0, das nach der 2:4-Hinspielniederlage nicht zum Weiterkommen reichte.

1996 schied Čekan nach einem unerquicklichen behördlichen Wirrwarr aus, und die Viktoria drohte erneut im Niemandsland zu verschwinden. Doch zur Freude der gewachsen Fanschar verteidigten die Rot-Weißen ihren Platz im Spitzenfeld des Prager Fußballs nicht nur sondern drangen zunehmend in die Phalanx der beiden Großen Slavia und Sparta ein und errangen 2001 erneut den Landespokal.

2002 winkte unter Trainer Zdeněk Ščasný sogar die zweite Landesmeisterschaft nach 1928. Doch wie es sich für einen zünftigen Kultklub gehört, scheiterte die Viktoria um Tomáš Hunal und Petr Pižanowski ebenso tragisch wie spektakulär. Bis zur 86. Minute hielt man im Derby gegen die Slavia ein 0:0, das im Titelduell mit Slovan Liberec zur Meisterschaft gereicht hätte. Dann traf Pavel Kuka für Slavia und Viktoria fiel auf Rang drei zurück und damit sogar aus den Champions-League-Plätzen raus.

2003 feierte man in Žižkov noch einen triumphalen Europapokalerfolg über die Glasgow Rangers, ehe es 2004 zurück in die 2. Liga ging. Jahre später stellte sich zudem heraus, dass die Erfolge von einer systematischen Bestechung von Schiedsrichtern begünstigt gewesen waren. Seitdem pendelt der Kultverein sportlich zwischen Oberhaus und Zweitklassigkeit.

Das Viktoria-Stadion an der Seifertova třída im dritten Prager Bezirk Žižkov ist allein wegen der kultigen Anstoßzeit einen Besuch wert. Zudem ist Viktoria Žižkov der zentralst gelegene aller Prager Spitzenklub. Das charakterstarke Stadion liegt keine fünf Minuten vom Hauptbahnhof Hlavní Nádradží, und die ungewöhnliche Spielzeit genießt Kultcharakter unter reisefreudigen Fußballfans, bietet sie doch die Chance, im reichhaltigen Prager Fußballangebot gleich zwei Erstligaspiele an einem Tag zu erleben.

Eingeschlossen von klotzigen Wohnhäusern aus mehreren Epochen verspricht die Arena einen Ausflug in uralte Fußballtage. Als Arenen noch Stadien waren, die Sitzplätze ausschließlich den Honoratioren vorbehalten waren und das werktätige Volk noch Schiebermützen trug. Žižkov erlaubt diese Zeitreise, und könnte man die Farbe aus dem Bild kippen, käme man sich dort vor wie in den goldenen 1950er Jahren. Zwar trägt auch das Viktoria-Stadion inzwischen einen Sponsorennamen („eFotbal-Arena“) und ist mehrfach geliftet worden, der Zahn der Zeit – oder das Flair der Vergangenheit – je nach Standpunkt, lugt dennoch unverändert aus beinahe jedem Stein hervor.

Bei ihrer Eröffnung 1952 fasste die Arena 15.000 Menschen. Versitzplatzungsmaßnahmen haben dies seit 2002 auf übersichtliche 5.600 Plätze reduziert, die allerdings nur dann knapp werden, wenn einer der großen Nachbarn Slavia oder Sparta anrückt. Architektonisch ist die Sportstätte ein Unikum mitten in der brodelnden Weltstadt Prag. Einzig die Haupttribüne ist überdacht. Direkt hinter der Westtribüne verläuft ein wuchtiges Gebäude, und auf der Ostseite konnte erst 2007 eine notdürftige Traverse errichtet werden, auf der sich seitdem die Viktoria-Fans versammeln. Sie sind zahlenmäßig nicht wirklich viele. Aber sie sind laut, und sie sind treu. Im Gegensatz zum klar links positionierten Umfeld beim benachbarten Kultklub Bohemians 1905 ist der Fanblock in Žižkov zudem durchmischt.

Legendenstatus genießt auch der ursprüngliche Eingangsbereich vor der Ostkurve, in der es zudem eine weitere Berühmtheit Žižkovs gibt: die legendäre Klobasa-Bratwurst. Für 45 Kronen ist diese hemdsärmlige kulinarische Köstlichkeit, die zu den besten Prags, wenn nicht gar Tschechiens zählt, zu erwerben. Dazu ein zünftiges Bier, und schon stört die frühe Anstoßzeit nicht mehr.

Gründungsdatum: 1903. Vereinsfarben. Rot-Weiß. Stadion: eFotbal Arena, Seifertova třída, Praha 3 - Žižkov (5.600 Plätze). Internet: fkvz.cz

Bekannte Spieler: Karel Poborský, Tomáš Hunal, Josef Ludl, Antonín Mlejnský, Alĕs Pikl, Petr Pižanowski

Größte Erfolge: Tschechoslowakischer Meister 1928. Tschechischer Pokalsieger: 1994, 2001. Teilnehmer Europapokal der Pokalsieger 1994. UEFA-Cup-Teilnehmer 2000, 2002, 2003

Fans: Der Fan Klub Viktoria Žižkov (www.fkvz-fanklub.cz) nimmt auf der Osttribüne Position.

1 Kommentar:

  1. Schöner Artikel. Ich war 1999/2000 während meines Studiums in Prag regelmäßig bei den Heimspielen - einmal auch, wie von Ihnen beschrieben, direkt aus einer der Zizkover 24-Stunden-Kneipen kommend, um ein trostloses 0:0 gegen Liberec mehr schlecht als recht wahrzunehmen. Die Atmosphäre im Stadion haben Sie gut geschildert. Obwohl ich doch finde, dass der Abriss der alten Stehplatztraversen viel vom alten Flair genommen hat.

    Nur eine Anmerkung: Sie schreiben: "Erst nach dem Prager Frühling kehrte Viktoria Žižkov auf die Landkarte der großen Prager Mannschaften zurück." Der "Prager Frühling" war 1968. Sie meinen sicherlich die "Samtene Revolution" 1989.

    Deti moje, hrrr na ne!

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