Hier der Endspielbericht aus meiner EM-Enzyklopädie 1960 bis 2012
Jens Todt saß gemütlich in einer Bremer Pizzeria, als sein Handy klingelte. „Guten Abend, hier ist Berti Vogts. Ich brauche dich. Nimm den ersten Flieger nach London“, hieß es am anderen Ende. Wenige Stunden später landete der angehende Werderaner in der britischen Metropole und traf im „Landmark Hotel“ auf seine Nationalelfkameraden, mit denen er am nächsten Tag Europameister werden wollte.
Vor dem Anruf war Bundestrainer Vogts zutiefst verzweifelt gewesen: Kohler verletzt. Basler verletzt. Freund verletzt. Möller und Reuter gesperrt. Klinsmann mehr als fraglich. Helmer, Ziege, Kuntz, Bode - alle angeschlagen. Gnadengesuche für die Gelbsünder Möller und Reuter (sowie den ebenfalls betroffenen Tschechen Látal) hatte die UEFA zwischenzeitlich abgelehnt, und zwei Tage vor dem Finale standen dem Bundestrainer gerade einmal elf gesunde Akteure zur Verfügung - acht Feldspieler sowie drei Torhüter. „Beim Training war Kahn im Mittelfeld kreativer als Reck, der ein exzellenter Verteidiger war. Ich habe Trikots mit den Nummern 12 und 22 anfertigen lassen, damit sie spielen können“, erklärte Vogts mit verkniffenem Gesicht, als Werder Bremens Präsident Dr. Böhmert plötzlich den Rettungsanker hervorzauberte. Paragraph 29 im EM-Reglement erlaubte die Nachnominierung von bis zu zwei Spielern, wenn weniger als dreizehn Feldspieler zur Verfügung standen. Nach kurzer Beratung entschloss sich der DFB, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, und beorderte den Ex-Freiburger Todt nach London. Eine Entscheidung, die nicht überall respektiert wurde. „Schön für den DFB, schlecht für den sportlichen Gedanken einer Gleichbehandlung“, kommentierte »kicker«-Boss Rainer Holzschuh süffisant, konnte schlussendlich aber beruhigt sein, denn am Finalabend standen Vogts doch genügend gesunde Aktive zur Verfügung, und Todt durfte das Spiel von der Tribüne aus sehen. „Unser Sympathie-Wert in der Welt hätte gelitten, wenn der DFB das UEFA-Angebot mit Todts Einsatz letztlich umgesetzt hätte“, resümierte Holzschuh.
In England war die Sache mit Todt kein Thema. Noch immer klopfte der Fußballnation das Herz ob des aufregenden Halbfinals, trauerte man mit Gazza und Co. über deren so überaus tragisches Ausscheiden. Nicht einmal Gareth Southgate, der mit seinem Elfmeter an Andy Köpke gescheitert war, musste sich Vorhaltungen anhören. England war vereint in seinem Schmerz und seinem Stolz auf eine der dramatischsten Darbietungen der britischen Fußballhistorie. Wesentlich weniger Gesprächsstoff hatte das andere Halbfinale geliefert. Lediglich die Tatsache, dass mit der Tschechischen Republik wie schon 1992 ein Underdog das Endspiel erreicht hatte, wurde registriert. Dass die Überraschungself dort ausgerechnet auf jenen Gegner traf, gegen den sie im ersten Gruppenspiel 0:2 verloren hatte, gab dem tschechischen Finaleinzug noch eine besondere Note. Die Möglichkeit zur Wiedergutmachung wollten die Schützlinge von Dušan Uhrin natürlich unbedingt nutzen. Aber auch Deutschland lauerte auf Revanche - 1976 hatte man das EM-Finale gegen die damalige Tschechoslowakei erst im Elfmeterschießen verloren.
Trotz der Personalsorgen ging das deutsche Team als Favorit ins Rennen. Klinsmann war wie durch eine Wunderheilung wieder fit geworden, und auch Helmer, Ziege und Bode standen zur Verfügung. Die Feldspielertrikots für die beiden Ersatzkeeper konnten also im Schrank der Fußball-Raritäten bleiben - Deutschland bestritt das Finale mit zehn Feldspielern sowie Andy Köpke. Gegner Tschechien musste auf den noch immer rotgesperrten Látal verzichten und setzte wie im gesamten Turnierverlauf auf „safety first“. Klare Aufgabenverteilung, kontrolliertes Risiko und eine spannende Mischung aus Raum- und Manndeckung hatten die Uhrin-Schützlinge zu einem schwer zu schlagenden Gegner gemacht. Deutschland brachte Häßler für den gesperrten Möller und setzte vor allem auf die treibende Kraft eines Matthias Sammer, der sich im Turnierverlauf zum wertvollsten Spieler gemausert hatte. Strunz, Eilts, Helmer und Ziege bildeten die Abwehr, hinter der Babbel „Staubsauger“ spielte. Sorgen bereitete vor allem der Angriff. Kuntz bekam erneut den Vorzug vor Bierhoff, obwohl der Türkei-Legionär noch immer nicht seine erhoffte Form erreicht hatte, und Klinsmann war von zehn Tagen Verletzungspause gezeichnet.
Das Spiel begann vorsichtig. Keine Seite wagte etwas, und beim deutschen Team war Respekt vor einem Gegner zu erkennen, den man in der Vorrunde noch locker-lässig mit 2:0 geschlagen hatte. Es dauerte dreizehn Minuten, bis die erste Torchance registriert wurde: Kuka setzte sich gegen Babbel durch und zog eine scharfe Flanke in den Strafraum, wo Poborský per Direktabnahme das Ziel nur knapp verfehlte. Neutrale Beobachter hatten zu diesem Zeitpunkt den Eindruck, als zeige die tschechische Überraschungself einen Hauch mehr Entschlossenheit als die DFB-Auswahl. Markus Babbel hatte unübersehbare Probleme mit dem beweglichen Kuka, Helmer war offensichtlich durch seine Verletzung gehemmt und Klinsmann fehlte deutlich die Fitness. „Icke“ Häßler konnte abermals nicht an seine Euro-92-Form anknüpfen und ließ Sehnsüchte nach dem gesperrten Andy Möller aufkommen. Stark indes Mehmet Scholl, der an fast allen gefährlichen Aktionen beteiligt war und sich zudem ausgezeichnet in den Zweikämpfen durchzusetzen vermochte.
Tschechien dominierte die erste Halbzeit. In der 25. Minute verstolperte beispielsweise Pavel Nedvd, gemeinsam mit Karel Poborský die tschechische EM-Entdeckung, in aussichtsreicher Position das Leder. Elf Minuten später brannte es allerdings plötzlich auf der anderen Seite lichterloh. Sammer und Helmer hatten den Ball in die gegnerische Hälfte befördert, wo er nach einigen Turbulenzen zu Kuntz gekommen war. Der spitzelte das Spielgerät an Kouba vorbei in Richtung Tor, doch Rada konnte es noch von der Linie kratzen - Erleichterung nicht nur bei Poborský und Co., sondern auch bei Schiedsrichter Pairetto, denn die Tschechen hatten bereits Handspiel von Kuntz reklamiert.
Auch kurz vor dem Seitenwechsel wurde es noch einmal hektisch. Beide Teams drängten plötzlich auf ein Tor, und das Spiel gewann an Tempo. Kouba parierte prächtig gegen Stefan Kuntz, im Gegenzug unterlief ausgerechnet dem ansonsten wie gewohnt zuverlässigen Dieter Eilts ein Abspielfehler, doch Köpke knöpfte Kuka das Leder in letzter Sekunde ab. Sekunden später gab es erneut Aufregung um Eilts, der sich bei einem Pressschlag mit Jií Nmec verletzte. Zur Halbzeit war man sich einig, eine insgesamt nicht sonderlich packende Partie gesehen zu haben, die in keinster Weise entschieden war. Nach den Eindrücken der ersten fünfundvierzig Minuten wurden allerdings Tschechien die besseren Chancen eingeräumt.
Während des Pausentees vergrößterten sich die Sorgenfalten auf dem Gesicht von Berti Vogts. Bei Dieter Eilts war ein Innenbandabriss im linken Knie diagnostiziert worden - der Bremer musste in der Kabine bleiben. Für ihn schickte Vogts Marco Bode ins Rennen und beorderte Christian Ziege dafür ins zentrale Mittelfeld. Der personelle Rückschlag erwies sich als weichenstellend. Plötzlich kam das deutsche Team deutlich besser ins Spiel, zumal Mehmet Scholl noch immer vor Selbstvertrauen strotzte. Fünf Minuten nach Wiederanpfiff bot sich Thomas Strunz die Gelegenheit zum Führungstreffer, doch der mit zunehmender Spieldauer immer stärker abbauende Münchner zog am Gehäuse von Petr Kouba vorbei. Mit der offensiveren Gangart der deutschen Elf ging auch ein Ruck durch die Tschechen, die nun ebenfalls angriffslustiger wurden und damit zu einem deutlich unterhaltsameren Spiel beitrugen. Auch der Außenseiter hatte Chancen: Poborský scheiterte mit einem Freistoß an der deutschen Mauer, Köpke tauchte bei einem abgefälschten Berger-Schuss sekundengenau ab. In der 59. Minute war der deutsche Keeper aber machtlos. Bei einem Laufduell mit Sammer war Poborský zu Boden gegangen - „klares Foul, Elfmeter“, forderten die Tschechen, „kein Foul, Poborský ist in den Strafraum hineingeflogen“, beteuerten die Deutschen. Schiedsrichter Pairetto entschied sich für die tschechische Sichtweise und Patrik Berger ließ sich die Chance nicht nehmen. 1:0, der Underdog führte, und wie 1992 bahnte sich eine Sensation an. Mit dem 1:0 im Rücken hatten die abwehrstarken Tschechen sämtliche Vorteile auf ihrer Seite und konnten geduldig abwarten, was Deutschland so einfiel. Doch im Gegensatz zu 1992, als der DFB-Elf die geistige Frische zur Gegenwehr gefehlt hatte, waren die Vogts-Schützlinge diesmal „fit“. Mit hochrotem Kopf trieb Sammer seine Vorderleute immer wieder an, vermisste jedoch eine Anspielstation im gegnerischen Strafraum. In der 69. Minute reagierte Berti Vogts und schickte Oliver Bierhoff aufs Feld. Die Aufregung, dass dafür mit Mehmet Scholl ausgerechnet der bis dahin kreativste Akteur vom Platz ging, hatte sich noch nicht gelegt, da lagen sich die deutschen Fans schon jubelnd in den Armen. Ziege hatte einen Freistoß aus halbrechter Position herrlich vor das Tor geschlagen, und aus fünf Metern war Bierhoff mit einem wuchtigen Kopfstoß der Ausgleich gelungen.
Nun war das Spiel wieder offen. Beide Seiten drängten auf das 2:1, suchten die Entscheidung. Köpke und Kouba zeichneten sich mehrfach durch Glanzparaden aus und stürzten die Fans in ein Wellental der Emotionen. Zwei Minuten vor Schluss schickte Uhrin den Prager Vladimír Šmicer ins Rennen und hätte damit fast einen ebensolchen Treffer gelandet wie zuvor Vogts mit Bierhoff. Doch Köpke drehte einen Šmicer-Schuss in höchster Not um den Pfosten und rettete Deutschland damit die Verlängerung.
In jener waren fünf Minuten gespielt, als die Entscheidung fiel. Mit dem Rücken zum Tor kam Bierhoff an den Ball, drehte sich blitzschnell und zog ab. Der von Horák noch abgefälschte Ball fand seinen Weg ins Netz, wobei Pavel Kouba eine mehr als schlechte Figur abgab. Der Torhüter klagte später, Linienrichter Donato Nicoletti habe die Fahne gehoben, weil Kuntz im Abseits gewesen sei, und ihn damit irritiert. Schiedsrichter Pairetto erkannte jedoch auf „passives Abseits“ und beendete die Partie, womit Bierhoffs „Golden Goal“ Deutschland zum dritten Mal nach 1972 und 1980 zum Europameister gemacht hatte. Sekunden der Anspannung verstrichen, ehe beide Seiten realisierten, dass das Spiel tatsächlich beendet war. Während die deutsche Bank jubelnd auf den Platz stürmte, waren die Tschechen untröstlich. So ein Ende hatten sie nicht verdient, und die Sache mit dem „Golden Goal“ hatte in Prag zweifelsohne keine neuen Anhänger gefunden.
Glücklichster Mann auf Erden war zweifellos Berti Vogts. Seit seinem Amtsantritt umstritten, hatte er es allen gezeigt. Eine hart arbeitende, mit dem Glück des Tüchtigen ausgestattete und von ihm zusammengestellte Elf ohne Störfaktoren à la Effenberg oder Matthäus beförderte den „Bundesberti“ endlich auf eine Stufe mit Vorgängern wie Helmut Schön und Franz Beckenbauer. Vogts nutzte die Gunst der Stunde und bedankte sich mit einer Ein-Mann-„La-Ola“ bei den mitgereisten Fans - zweifelsohne das Bild des Finales. Bundestorwarttrainer Sepp Maier blickte derweil auf die WM 1994 zurück: „Dort hatten wir mehr Spielerpersönlichkeiten, die aber nicht miteinander gespielt haben. In England hatten wir eine eingeschworene Truppe, die durch die Qualifikation, die wir vor zwei Jahren nicht hatten, zusammengewachsen ist.“
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