Erstmals trifft die deutsche Nationalmannschaft heute auf die Auswahl von Kasachstan. Ein unbekanntest Land, dessen Fußballgeschichte lange Zeit vom Sowjetbanner geprägt war. Seit dem Wechsel vom asiatischen AFC zur europäischen UEFA befindet sich das Land in einem umfassenden Aufbruch. Nachstehend ein Auszug aus dem Kapitel Kasachstan aus dem ersten Band meiner Fußballweltenzyklopädie.
Kasachstan befindet sich im Aufbruch. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn kürzlich wurde sogar die Hauptstadt des zentralasiatischen Landes von Almaty (früher Alma-Ata) nahe der chinesischen Grenze rund 1.300 Kilometer weiter nördlich nach Astana verlegt. Dort überwiegt momentan zwar noch die Steppe, doch mit modernsten Hilfsmitteln und dem Know-how tüchtiger Architekten wird eine Stadt aus dem Boden gestampft, die 2030 Millionenmetropole und, nach den Hoffnungen der Kasachen, wirtschaftlich auf EU-Niveau sein soll.
■ WECHSEL ZU EUROPA Europa ist auch im Fußball Kasachstans Orientierungspunkt, nachdem sich die ehemalige Sowjetrepublik zunächst dem asiatischen Kontinentalverband zugewandt hatte. Doch man war nicht glücklich gewesen mit Gegnern wie Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die nicht geeignet schienen, Kasachstan fußballerisch voranzubringen. Und so nutzte man die rund zehn Prozent auf dem europäischen Kontinent liegende kasachische Landmasse, um 2000 einen Aufnahmeantrag an die UEFA zu stellen, den nach einer Umfrage der nationalen Sportzeitung »Prosport« 99 % aller kasachischen Fußballer unterstützten.
2002 wurde dem Kontinentwechsel stattgegeben, und das Rennen um einen Platz bei der WM 2006 nahm Kasachstan bereits in Europa auf. Dass das sportliche Leistungsniveau auf dem alten Kontinent tatsächlich höher als in Asien liegt, wurde deutlich, als es in zwölf Spielen lediglich einen Zähler zu bejubeln gab (0:0 in Georgien) und man sich selbst Albanien zweimal geschlagen geben musste. Im Rahmen der Qualifikation zur EM 2008 deutete die Elf um Rusian Baltijew beim 0:0 in Belgien und vor allem beim sensationellen 2:1 über Serbien dann jedoch ihr Potenzial an.
■ ZWANGSUMSIEDLUNG UND ATOMVERSUCHE Als das Land der Kasachen (»freie Krieger«) 1991 nach Jahrhunderten unter russischer Herrschaft in die Unabhängigkeit entlassen wurde, stand es vor gewaltigen Aufgaben. Mehr als sechzig Jahre rücksichtsloser sowjetischer Ausbeutungspolitik hatten eine zutiefst verwirrte Nation hinterlassen. Unter dem Sowjetstern waren die kasachischen Nomadenvölker zwangsweise sesshaft gemacht worden, während die Massenansiedlung von kollektivierungsunwilligen Ukrainern und Russen, ungeliebten Wolgadeutschen sowie Koreanern das ethnische Gefüge komplett verändert hatte. Geheime Atomversuche in Semipalatinsk sowie die systematische Zerstörung des Aralsees hinterließen zudem ein schwieriges ökologisches Erbe.
Politisch kamen die Kasachen nach dem Ende des UdSSR vom Regen in die Traufe. Eine von Ex-KP-Sekretär Nursultan Abischuly Nasarbajew angeführte Politikerclique übernahm die Führung über das ölreiche Land, das seitdem weder Demokratie noch Pressefreiheit kennengelernt hat. Nasarbajew war es auch, der 1995 verfügte, die Hauptstadt in den Norden zu verlegen. Er will damit den Einfluss südkasachischer Clans eindämmen und einer drohenden Abspaltung des überwiegend von Russen bewohnten Norden vorbeugen. So wurde die Provinzstadt Akmola (»Weißes Grab«), die früher Akmolinks bzw. Zelinograd hieß, als Astana zur neuen Hauptstadt und zum allgegenwärtigen Symbol des »neuen Kasachstan«.
■ KAIRAT BEWIES STÄRKE Das betrifft nicht zuletzt den Sport, wo 2007 beispielsweise der »Astana«-Profirennstall von Dopingsünder Alexander Winokurow (Dritter der Tour de France 2003) den Namen der neuen Hauptstadt trug. Im Fußball steht Astana für »Zukunft«: 2006 wurde Hauptstadtklub FK Astana zum dritten Mal binnen sechs Jahren Landesmeister. Dass der Klub vom Niederländer Arno Pijpers betreut wird, dessen Hauptberuf der des Nationaltrainers ist, signalisiert seine enorme Bedeutung.
Fußball kam 1913 nach Kasachstan, als der russische Kaufmann Nikolai Kuprijanow das Spiel in Semipalatinsk einführte. Über das spätere Atomzentrum hinaus fand Fußball zunächst kaum Verbreitung. Erst als die Sowjetunion in den späten 1920er Jahren im Zuge der massiven Industrialisierung systematisch mit einem von den großen Sportorganisationen Dinamo, Lokomotiv, Spartak etc. dominierten Vereinsnetz überzogen wurde, änderte sich das. 1926 wurde Kasachstan zudem durch die Turkestan-Sibirische Eisenbahn verkehrstechnisch erstmals an Russland angeschlossen.
Zwei Jahre später nahm eine kasachische Regionalauswahl an der Spartakiade in Kasan teil, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Klubs der Region in den sowjetischen Spielbetrieb integriert. 1960 erreichte mit Kairat Alma-Ata erstmals ein kasachischer Klub die Oberliga, in der man mit Spielern wie Oleg Dolmatow, Semirdzhan Baischakow und Ewgeni Jarowenko insgesamt 24 Jahre mitmischen konnte.
■ ZUNÄCHST IN ASIEN DABEI Nach der Unabhängigkeit wies Kasachstan eine Offerte der UEFA zurück und schloss sich der asiatischen Konföderation an, weil man sich dort sportlich bessere Möglichkeiten ausrechnete. Alsdann stand man vor der Aufgabe, landesweite Strukturen aufzubauen.
Nach einigen Anlaufschwierigkeiten setzte Kasachstan Mitte der 1990er Jahre verstärkt auf Jugendförderung und verbuchte allmählich Fortschritte. Die Nationalelf debütierte im Juni 1996 mit einem 1:0-Sieg über Katar in der Asienmeisterschaft und drang bei der Qualifikation zur WM 1998 auf Anhieb in die Zwischenrunde vor. Ein Jahr später vermochte sich die von Vladimir Fomichew trainierte Juniorenauswahl sogar für die WM in Nigeria zu qualifizieren, während Yelimaz Semipalatinsk 1996 in der asiatischen Champions League ein bemerkenswertes 3:0 über Piroozi Teheran erreichte. 2001 konnte Irtysh Pavlodar im selben Wettbewerb sogar bis ins Halbfinale vordringen, wo man gegen Jubilo Iwata aus Japan erst in der Verlängerung durch »golden goal« verlor.
Zur selben Zeit machte sich jedoch zunehmend Unzufriedenheit über die Voraussetzungen in Asien breit. Als Rachat Alijew 2000 die Verbandsführung übernahm, setzten sich die Europafürsprecher durch, und Kasachstan richtete seinen Fußball-Blick fortan gen Westen. Als problematisch erwies sich dabei der Mangel moderner Vereinsstrukturen. Nach der 2003 erfolgten Aufnahme in die UEFA konnten zunächst lediglich Kairat Almaty und Aktobe Lento an UEFA-Wettbewerben teilnehmen. So durfte der vierfache Landesmeister Irtysh Pavlodar 2005 nicht im UEFA-Cup starten, weil er keine Steuern für seine Spieler abgeführt hatte.
Nach und nach entwickeln sich die Strukturen jedoch. In Astana entsteht derzeit ein modernes Großstadion, das künftig die Zentrale des kasachischen Fußballs darstellen soll, das kasachische Fernsehen berichtet verstärkt vom europäischen Fußball, und in der von Legionären dominierten Nationalliga dürfen seit 2006 nur noch fünf Nichtkasachen eingesetzt werden. Dass 2007 gleich drei kasachische Vertreter auf der europäischen Ebene brillierten, bestätigte diesen guten Eindruck.
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