Freitag, 29. Oktober 2010

Zur Integrität von Fußballfunktionären

Als kleinen Beitrag zur aktuellen Diskussion über Integrität von Fußballfunktionären in Europa bzw. der Welt ein Artikel aus meiner WM-Enzyklopädie 1930-2014 über die Vergabe der WM 1970 an Mexiko.



Die Vergabe: Hinter den Kulissen...
Die Fußballwelt hatte sich verändert.
Das musste auch FIFA-Präsident Rous einsehen. Der bekanntermaßen auf Fair Play und “alte Werte” setzende, konservative Brite war entsetzt über die Vorgänge im Vorfeld des Vergabekongresses für die WM 1970 während der Olympischen Spiele 1964 in Tokio. Beide Kandidaten - Argentinien und Mexiko - betrieben nämlich exzessiv Werbung in eigener Sache, wobei die diplomatischen Regeln nicht immer eingehalten wurden. Neben farbenfrohen Broschüren mit aussagekräftigen Texten und verlockenden Bildern wurden den Exekutivkomiteemitgliedern in “persönlichen Gesprächen” nämlich auch kleinere Geschenke und Gefälligkeiten als Gegenleistung für ihre Stimme versprochen - “hinter vorgehaltener Hand” natürlich. Die ach so heile Welt der FIFA war endgültig zerstört und plötzlich von komplizierten diplomatischen Vorgängen erfüllt. Präsident Rous, der den schleichenden Veränderungsprozess mit der ihm eigenen Naivität weitestgehend ignoriert hatte, war erschüttert.
Um ähnliche Vorgänge in Zukunft zu vermeiden, setzte er kurzerhand durch, dass in Tokio nicht nur der Gastgeber für 1970 bestimmt, sondern zugleich über die Weltmeisterschaften 1974 und 1978 beraten werden sollte. Als Favorit für 1970 galt Argentinien. Die südamerikanische Fußballhochburg war nach Uruguay (1930), Brasilien (1950) und Chile (1962) einfach “dran”.
Mexiko wurden höchstens Außenseiterchancen eingeräumt. Zwar war das zentralamerikanische Land Ausrichter der Olympischen Spiele von 1968 und hatte zudem an allen WM-Qualifikationsrunden mit Ausnahme von 1938 teilgenommen Argentinien dagegen war mehrfach schmollend ferngeblieben), doch Höhenlage und Infrastrukturprobleme schreckten viele ab. Die im Vorfeld ebenfalls als Kandidaten gehandelten Länder Indonesien und Ägypten hatten im Übrigen keinen Antrag eingereicht.
Den über hundert Delegierten in Tokio wurde am 8. Oktober 1964 ein atemberaubendes Schauspiel geboten, das man getrost als Schmierenkomödie bezeichnen konnte. Mexikos Vertreter hielt eine flammende Rede, pries die Schönheit seines Landes und versprach die “farbenprächtigste Weltmeisterschaft aller Zeiten”. Argentinien hingegen, das sich offenbar nicht damit abfinden konnte, einen Konkurrenten zu haben, wies trotzig auf seine Bedeutung für den Weltfußball hin, erinnerte an die einzigartige Atmosphäre in seinen Stadien und ging ansonsten von einem klaren Sieg aus.
Doch als man zur öffentlich durchgeführten Abstimmung kam, setzte es eine Überraschung: Mexiko erhielt mit 56:32 Stimmen bei sieben Enthaltungen den Zuschlag.
Die Hintergründe wurden rasch deutlich. Zum einen hatten viele Delegierte ihre Probleme mit der seit dem Sturz von Juan Perón (1955) unsicheren politischen und wirtschaftlichen Lage in Argentinien, zum anderen hatte Mexiko eine Trumpfkarte, die unschlagbar war: Den Mediengiganten Televisa, der mit dem Angebot lockte, aus der WM 1970 ein weltweites Medienereignis zu machen, und zudem über einflussreiche Freunde verfügte. Im Grunde genommen war Televisa Mexikos größte Wirtschaftsund Sportmacht. 1961 hatte das von Emilio Azcárraga Vidaurreta angeführte Unternehmen mit dem CF América einen der profiliertesten Klubs Mexikos erworben - und sich damit einen Platz im nationalen Fußballverband geschaffen, der zur direkten Einflussnahme genutzt wurde. “Über Mexikos Fußball oder über Televisa zu sprechen, ist ein und dasselbe”, befand ein Insider später.
Ach ja, über 1974 und 1978 wurde in Tokio ebenfalls beraten. Die WM 1974 sollte Deutschland ausrichten, die von 1978 das Mexiko unterlegene Argentinien.

WM Macher: Guillermo Cañedo
Der Vorsitzende des mexikanischen
Fußballverbandes war einer
der eifrigsten Lobbyisten auf dem
Tokioter Vergabekongress und
wurde nach dem Zuschlag mit der
Führung des OK belohnt. Cañedo spiegelte perfekt
die sich verändernden Vorzeichen in der
FIFA und der WM-Frage wider, denn er war Televisa-
Angestellter - nie zuvor hatte ein Wirtschaftsunternehmen
einen direkteren Einfluss
gehabt! Mexikos Topjournalist Fernández bezeichnete
Cañedo als “geschickten Politiker und
sehr guten Verhandlungspartner. Er war Televisas
Speerspitze auf dem Weg in Mexikos Fußball und
vor allem in die FIFA, wo er bis zum Vizepräsidenten
aufstieg. Er arbeitete nicht für das Wohl
des mexikanischen Fußballs, sondern für das der
TV-Firma, für die er arbeitete.”

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen