Das kleine Estland kann an diesem Wochenende die Tür zum großen Fußball für sich aufstoßen. In der EM-Qualifikaion trifft man als krasser Außenseiter auf Irland. Hier ein Einblick in die estnische Fußballhistorie aus dem ersten Band der "Weltfußball-Enzyklopäde".
Viele Esten zieht es in den Westen. Vor allem junge Menschen emigrierten seit der Unabhängigkeitserklärung von 1990 aus der nördlichsten der drei Baltenrepubliken, die seit 2004 EU-Mitglied ist. Unter ihnen waren auch Mart Poom, Estlands Nationalkeeper, der es beim englischen Premier-League-Club Derby zu hohem Bekanntsheitsgrad brachte, sowie Andres Oper, der sein Brot zeitweise im niederländischen Kerkrade verdiente.
Estlands »Meistriliga« ist zwar die stabilste Nationalliga im gesamten Baltikum, rangiert in der nationalen Beliebtheitsskala aber dennoch mit deutlichem Abstand hinter Eishockey nur auf Position zwei. Der Spielbetrieb leidet unter schwierigen klimatischen Bedingungen (lange Winter, kurze Sommer) und einer komplizierten demografischen Struktur. Ein beträchtlicher Anteil der Einwohner des Landes sind Russen, von denen viele weder Estnisch sprechen noch größeres Interesse am estnischen Fußball zeigen.
Als Estland 1918 nach Jahrhunderten der Fremdbestimmung durch Dänen, Deutsche, Schweden und Russen erstmals eigenständig wurde, war Fußball bereits fest verankert. Englische Seefahrer und Kaufleute hatten das Spiel nach der Jahrhundertwende eingeführt und vor allem in der Hafenstadt Tallinn (seinerzeit noch Reval) eine solide Basis geschaffen. Darüber hinaus kickte man noch in der Universitätsstadt Tartu (Dorpat), wo 1906 sogar das erste Spiel auf estnischem Boden stattgefunden hatte.
Das estnische Fußballherz schlug freilich in Tallinn. Dort entstand 1908 mit Meteor auch der erste Fußballverein, der seine Mitglieder aus dem akademischen bzw. kaufmännischen Milieu rekrutierte und mit dem im Flachshandel tätigen Engländer Urchard sogar einen Trainer aufwies. Im selben Jahr entstand mit Merkuur ein zweiter Verein, für dessen Gründung Mitarbeiter einer örtlichen Druckerei verantwortlich waren.
Nachdem das während des Ersten Weltkriegs von Deutschland besetzte Estland die Wirren der Oktoberrevolution zur Unabhängigkeitserklärung genutzt hatte, wurde 1921 mit der »Deelnemers« eine Fußball-Nationalliga aus der Taufe gehoben. Deren dominierende Kraft war der Hauptstadtklub Sport Tallinn, zwischen dessen Pfosten mit Evald Tipner Estlands damals berühmtester Fußballer stand. Noch im selben Jahr entstand ein Nationalverband, der 1924 eine Auswahl zu den Olympischen Spielen nach Paris schickte, die dort Niederlagen gegen die USA (0:1) und Irland (1:3) bezog.
Drei baltische Meisterschaften sowie die WM-Qualifikationsteilnahmen 1934 und 1938 hatten Estlands weiteren Weg gesäumt, bevor die kleine Baltenrepublik 1940 von der UdSSR einverleibt und anschließend massiv russifiziert wurde. Estlands Fußball verfiel unter dem Sowjetstern in die Bedeutungslosigkeit. Lediglich Kalev Tallinn mischte von 1960-61 für zwei Spielzeiten in der Oberliga mit, während alle anderen Klubs ein Schattendasein in unteren Spielklassen fristeten.
Gemeinsam mit Litauen und Georgien zählte Estland Ende der 1980er Jahre zu den Vorreitern der Loslösungsbewegung von der UdSSR. Am 17. Juni 1988 versammelten sich anlässlich des Jahrestages des Einmarsches der Roten Armee mehr als 170.000 Esten in Tallinn und sangen verbotene Volkslieder. Nach dieser »Singenden Revolution« wurde im März 1990 die Republik proklamiert, die nach dem gescheiterten Putsch von Moskau im August 1991 internationale Anerkennung erfuhr.
Im Fußball stand man seinerzeit vor schweren Aufgaben. Es gab keine Jugendarbeit, kaum ausgebildete Trainer und nur eine rudimentäre Infrastruktur. 1991 wurde die Nationalliga eingerichtet und mit dem Aufbau landesweiter Fußballstrukturen begonnen. Einen wesentlichen Bestandteil bildete dabei die zuvor von Roman Ubaviki aufgebaute Nachwuchself »Lõvid« (»Löwe«), die mit Spielern wie Mart Poom, Andres Oper, Urmars Kirs und Marek Lemsalu zum Kern der estnischen Nationalelf wurde. Ubaviki knüpfte zudem enge Verbindung zum 1990 von dem Geschäftsmann Aivar Pohlak gegründeten FC Flora Tallinn, bei dem die meisten Lõvid-Spieler unterkamen und der sich prompt in die dominierende nationale Kraft verwandelte.
Im Vergleich zu anderen ehemaligen Sowjetrepubliken gelang Estland die Umwandlung von der Plan- zur Privatwirtschaft erstaunlich schnell, und wie in der Politik wurde das Land auch im Fußball zum Musterknaben. Vor allem die anderswo üblichen Korruptionsskandale blieben aus, wenngleich Flora-Chef Pohlak rigider Führungsstil und zu großer Einfluss auf den Nationalverband vorgeworfen wird. Im Juni 2001 weihte der Klub mit der A. Le Coq-Arena eine moderne Spielstätte ein, die sogar über Rasenheizung verfügt und auch der Nationalelf als Heimstatt dient.
International hat man sich beständig fortentwickeln können. Neben der Nationallegende Mart Poom etablierten sich auch Zelinski, Rooba, Viikmäe, Terehhov, Lemsalu, Pareiko und Oper auf internationalem Terrain, die Nationalelf feierte im März 2002 beim 2:1 im Freundschaftsspiel gegen Russland einen legendären Erfolg, und 2006 erreichte Levadia Tallinn als erster nationaler Klub die 1. Runde im UEFA-Cup, wobei man immerhin Twente Enschede ausschaltete. In der WM-Qualifikation 2006 konnte Estland erstmals seit 1940 den Erzrivalen Lettland bezwingen.
Trotz der insgesamt positiven Entwicklung gibt es aber auch Probleme. Der hohe Anteil von Russen an der Gesamtbevölkerung hemmt die Ausbildung eines Nationalgefühls (die Grenzstadt Narva ist sogar zu 97 % russisch), Geld ist trotz der blühenden Wirtschaft knapp und die Besucherzahlen sind karg. 2006 wohnten dem Pokalfinale zwischen TVMK und Flora ganze 350 Unverdrossene bei. Zudem geht die Schere zwischen den verhältnismäßig wohlhabenden Topklubs TVMK, Flora, Levadia und Trans Narva sowie dem Rest der Liga kontinuierlich auseinander. 2005 trennten den Fünften Tulevik Vijandi 22 Punkte vom Vierten FC Flora und gar 48 von Meister TVMK.
Damit spiegelt sich nur jene im gesamten ehemaligen Ostblock zu beobachtende Entwicklung wider, die der Fernsehjournalist Indrak Treufeldt 2002 mit den nüchternen Worten charakterisierte: »Es gibt ein Estland, das den Reichen gehört, und eines, das gehört den Alten«.
Nähere Infos zur zweibändigen Weltfußballenzyklopädie: http://www.hardy-gruene.de/buecher/weltenzyklopaedie.htm
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