Dabei war der französische Fünftligist USL Dunkerque im Spiel beim neukaledonischen Spitzenklub AS Magenta Nouméa in der 80. Minute noch mit 1:0 in Führung gegangen und hatte sich bereits auf der Siegerstraße befunden, als der Außenseiter quasi mit dem Schlusspfiff doch noch egalisierte. In der Verlängerung wuchs Magentas Torhüter dann über sich hinaus, ehe die Sensation im Elfmeterschießen perfekt wurde. Am Ende stand ein 4:3-Sieg für den krassen Außenseiter, der damit in die achte Runde des Coupe de France einzog.
Für den Fußball in Neukaledonien stellt dieser Erfolg einen großen Schritt dar. Die Heimat von Christian Karembeu ist die einzige Fußballhochburg im ansonsten rugbydominierten Südpazifik und befindet sich seit längerem auf einem hoffnungsvollen Weg. Zuletzt war Neukaledonien in der ozeanischen WM-Qualifikation ernsthafter Rivale von Neuseeland.
Nachstehend ein Auszug aus dem Kapitel Neukaledonien aus dem zweiten Band meiner Fußballweltenzyklopädie:
»L‘heure des Néo-Calédoniens« – »die Stunde Neukaledoniens« –, überschrieb das Fachblatt »France Football« im Januar 2008 sein Resümee über das abgelaufene Fußballjahr in Ozeanien. In acht Länderspielen war Neukaledonien sechsmal als Sieger vom Platz gegangen, hatte nicht eine Niederlage kassiert und war Südpazifikmeister geworden. Lohn war Platz eins in der kontinentalen Gesamtwertung – womit die kleine Inselgruppe im südwestlichen Pazifik selbst das große Neuseeland ausstach – sowie Rang drei in der FIFA-Weltrangliste »Aufsteiger des Jahres«!
Experten konnte das beherzte Auftreten der neukaledonischen Kicker, die erst seit 2004 der FIFA angehören, nicht überraschen. Immerhin hatte Neukaledonien mit Christian Karembeu bereits einen Weltmeister hervorgebracht (1998, Frankreich), stand das Fußballspiel auf der 1853 von Frankreich annektierten Inselgruppe seit den 1920er Jahren in stolzer Blüte. Im Gegensatz zu seinen rugbyverrückten Nachbarn Australien, Neuseeland und Fidschi ist Neukaledonien ein Fußball-Land voller Tradition.
Das erste Spiel auf neukaledonischem Boden fand anno 1910 statt, als die Besatzung des französischen Kreuzers »Montcalm« gegen eine Auswahl in der Hauptstadt Nouméa stationierter französischer Soldaten auflief. Nach dem Ersten Weltkrieg auf die Insel gekommene europäische Kolonialisten sorgten dann in den 1920er Jahren für ein beispielloses Aufblühen des Ballspiels. 1928 entstand mit der Fédération Calédonienne de Football (FCF) ein Nationalverband, der damit nach dem von Australien und Neuseeland der drittälteste Ozeaniens ist.
Weil Neukaledonien politisch zu Frankreich gehört, konnte der FCF lange jedoch keine eigenen Wege gehen, sondern schloss sich dem französischen Nationalverband FFF an. Das passte insofern, als Neukaledoniens Fußball seinerzeit ohnehin von europäischen Siedlern dominiert war und die einheimischen Melanesier – »Kanaki« genannt – kaum Interesse an dem Spiel zeigten. Der Legende zufolge soll Edouard »Marcellin« Unei in den 1920er Jahren der erste Einheimische gewesen sein, der auf Klubebene gegen den Ball trat und für eine Soldatenmannschaft das Tor hütete.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das Spiel auf eine breitere gesellschaftliche Ebene gehievt. 1947 erhielt der Nationalverband den Namen »Ligue Calédonienne de Football«, und im September 1951 überraschte Neukaledonien in seinem ersten »Länderspiel« den Nachbarn Neuseeland mit einem sensationellen 2:0. Ein Jahr zuvor hatte sich der Hauptstadtklub Impassible Nouméa die erste Landesmeisterschaft gesichert, während Ortsrivale Indépendante 1954 mit einem 5:3 über Uniforme Fayaoué den neugeschaffenen Landespokal errang. 1950 war mit Jean Louis »Jojo« Merignac zudem ein in Diensten von Girondins Bordeaux stehender Kanake französischer Meister geworden.
Das Spiel hatte sich zwischenzeitlich weit über Neukaledoniens Hauptinsel Grande Terre ausbreiten können und war auch auf den umliegenden Loyalitätsinseln angekommen. Pokalfinalist Uniforme Fayaoué beispielsweise hatte sein Domizil auf dem nur 130 km² großen Eiland Ouvéa.
In den 1960er Jahren verwandelte sich Neukaledonien in ein beliebtes Ferienziel. Unter den Erholungssuchenden aus aller Welt waren auch Fußballmannschaften aus Australien bzw. Neuseeland, deren Gastspiele das Niveau des neukaledonischen Fußballs erheblich anhoben. Das zeigte sich vor allem auf internationaler Ebene, denn 1963 sicherte sich die Landesauswahl bei den ersten Südpazifikspielen prompt die Goldmedaille. 1969 und 1971 ging das Edelmetall zwei weitere Male nach Nouméa.
Administrativ zählte Neukaledonien seinerzeit zu den ambitioniertesten Kräften im ozeanischen Fußball. Obwohl einer der vehementesten Befürworter der Bildung eines Kontinentalverbandes, musste man sich als französische Kolonie allerdings zwangsläufig mit der Rolle eines »associated member« zufrieden geben, als der OFC schließlich 1966 entstand. Der Beitritt zur FIFA blieb Neukaledonien sogar gänzlich verwehrt. 1971 gab es einen weiteren Rückschlag, als die in Nouméa geplante erste Ozeanienmeisterschaft nach dem Verzicht Australiens abgesagt werden musste.
Auf nationaler Ebene indes florierte der Fußball. Neben der Landesmeisterschaft bzw. dem Pokalwettbewerb gab es diverse regionale Spielklassen sowie eine Meisterschaft der Provinzmeister, womit Neukaledonien über das mit Abstand modernste Spielsystem der Region verfügte. Wenngleich auch Teams aus der »Provinz« regelmäßig Erfolge feiern, lag und liegt das Epizentrum des neukaledonischen Fußballs auf der Hauptinsel Grande Terre bzw. in der Hauptstadt Nouméa. Dort lebt rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes, dominieren Klubs wie JS de la Vallée du Tir, AS Le Nickel sowie CA Saint-Louis den nationalen Fußballspielbetrieb.
Als französische Kolonie hat Neukaledonien das Recht, einen Teilnehmer am Pokalwettbewerb des Mutterlandes zu stellen. Über viele Jahre musste sich jener in einer Art Vorqualifikation dem tahitischen Cupsieger stellen. 1966 überwandt mit der JS Vallée du Tir Nouméa erstmals ein neukaledonisches Team diese Hürde und erreichte die Runde der letzten 64, wo man dem SC Toulon auf eigenem Platz mit 0:1 unterlag. Später erreichten auch AS Le Nickel Nouméa (1976, 0:3 gegen Corbeil), USL Gélima (1983, 0:1 gegen Red Star Paris) sowie CA Saint-Louis (1984, 2:3 im Elfmeterschießen gegen Abbeville bzw. 1987, 1:2 gegen Cannes) die siebte Hauptrunde im Coupe de France.
1984 brachen mit dem Beginn eines Rebellenkriegs gegen die französische Fremdherrschaft schwere Tage für Neukaledonien und seinen Fußball an. Als die linksgerichtete Unabhängigkeitsorganisation FLNKS den Boykott des »französischen« Spiels anordnete, sank die Zahl der aktiven Fußballer binnen weniger Wochen von über 8.000 auf knapp 2.000. Neukaledoniens damaliger Nationaltorhüter Gilles Tavergeux bezeichnete dies später als »schlimme Entscheidung, denn die Jugend wurde vom Sport weg und hin zur Kleinkriminalität gelenkt«. Erst 14 Jahre später beruhigte sich die Lage nach der Verabschiedung eines Übergangsstatus wieder. Für 2012 ist nun ein Referendum über die Unabhängigkeit vorgesehen.
Unterdessen blieb Neukaledoniens Fußball in der Obhut des französischen Mutterverbandes. Ab 1994 durfte man sogar einen eigenen Teilnehmer am Coupe de France stellen, wodurch bereits Profiteams wie Olympique Nîmes, FC Istres und FC Tours zu Gastspielen nach Nouméa reisten.
Auch in personeller Hinsicht ist die enge Verbindung zu Frankreich unübersehbar. Das berühmteste Beispiel ist Christian Karembeu, der 1970 auf Lifou geboren und 1998 mit Frankreich Weltmeister wurde. Vor Karembeu hatten bereits Jacques Atre (bekannt als »Zimako«), Charles Teambeuconi sowie Marc Kanyan das Jersey der »équipe tricolore« getragen. Kanyan reiste 1968 mit der französischen Olympiaauswahl sogar nach Mexiko, während Zimako 1982 im erweiteren WM-Kader Frankreichs stand. Mit Joseph Wamai, Simei Ihily und Antoine Kombouaré etablierten sich noch weitere Kanaken im französischen Profifußball. 2007/08 waren mit Poulidor und Jean-Louis Toto zwei neukaledonische Brüder beim korsischen Profiklub SC Bastia aktiv.
Auf kontinentaler ebene konnte Neukaledonien ungeachtet der politischen Querelen bzw. des Bürgerkriegs seine Position unter den führenden Kräften der Region verteidigen. 1973 und 1980 wurde die Nationalelf bei den Ozeanienmeisterschaften jeweils Dritte; 1987 errang sie erneut Gold bei den Südpazifikspielen. 1990 richtete das Land zudem die zweite Ozeanienmeisterschaft aus.
Mit der Verabschiedung des Übergangsstatus von 1998 war dann der Weg zur administrativen Eigenständigkeit frei, und Neukaledonien konnte sich endlich um eine vollwertige Mitgliedschaft im OFC bzw. in der FIFA bewerben. Am 21. Mai 2004 wurde das Land schließlich als 205. Mitglied in den Weltverband FIFA aufgenommen.
In sportlicher Hinsicht war der Prozess von einer schweren Krise begleitet. 1998 und 2000 enttäuschte die nach einem heimischen Vogel benannte Landesauswahl »les Cagous« und schied bei den Ozeanienmeisterschaften frühzeitig aus. Erst 2002 gelang ihr erneut der Sprung in die Endrunde, wo sie gegen Australien eine 0:11-Pleite hinnehmen musste. Anschließend schürte die erste Teilnahme an einer WM-Qualifikation (2006, sieben Zähler aus vier Spielen) wieder etwas Hoffnung, die 2007 mit dem fünften Gewinn der Goldmedaille bei den Südpazifikspielen bestätigt wurde. In der FIFA-Weltrangliste wirkte sich das durch den Sprung bis auf Position 118 aus – damit war Neukaledonien drittbester »Aufsteiger des Jahres«.
Eine auf breiter Basis angelegte Nachwuchsförderung sowie der noch immer intensive Kontakt zum Mutterland Frankreich hat die Situation in Neukaledoniens Fußball seitdem stetig verbessert. 2002 wurde mit der Division d‘Honneur eine Landesmeisterschaft ins Leben gerufen, an der die drei stärksten Teams der Inselliga von Grande Terre sowie die Meister der kleineren Inseln teilnehmen. Erster »echter« Landesmeister wurde 2002 die Jeunesse Sportive Baco aus Koné.
»Grundsätzlich ist ein Jugendlicher aus Neukaledonien begabter als einer aus dem Mutterland Frankreich, aber im Gegensatz zu ihm hat er keinerlei Strukturen, die er nutzen kann. Das ist eine absolute Vergeudung von Talenten«, sieht Ex-Profi Marc Kanyan die größte Herausforderung in der Schaffung professioneller Strukturen. Ziel ist eine möglichst landesweite Sichtung von Talenten, die in den ambitioniertesten Vereinen versammelt und zu einer nationalen Fußball-Elite ausgebildet werden sollen. Den Kommunen obliegt derweil die Aufgabe, die dafür notwendige Infrastruktur in Form von Stadien und Trainingsstätten zu schaffen.
Erste Erfolge sind bereits zu erkennen. 2005 drang Landesmeister AS Magenta Nouméa in der Ozeanienmeisterschaft bis ins Finale vor (0:2 gegen den Sydney FC), und 2007 schlug die eingangs erwähnte »Stunde Neukaledoniens«. Nachdem das Nationalteam unter dem französischen Trainer Didier Chambarou die Vorqualifikation zur WM 2010 ungeschlagen überstanden hatte, reiften in Nouméa erste Träume von der Reise nach Südafrika. Auch wenn jene schließlich zerplatzten, wird es vermutlich nicht die letzte »Stunde Neukaledoniens« gewesen sein!
Dieser Beitrag stammt aus der Fußballweltenzyklopädie, Band 2 (Afrika, Amerika und Ozeanien). Verlag Die Werkstatt, ISBN: 978-389533640-9, 472 Seiten, 39,90 €
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